Montag, 5. Dezember 2011

I m m e r , w e n n e s k l i n g e l t



Dokumentarische Erzählung - III -


Anton Stephan Drissen-Reyntjes:



I m m e r , wenn es k l i n g e l t


"Da - da! Magott! Ich krieg zu viel!“

„Hilfe! Britta!- Wieder die Alte.“

„Volker, nimm dich zusammen!“

„Da wieder! Da ist die, äh, diese Frau wieder! Glaub mir, komm, Britta! Die ruckelt und schuckelt und tuckelt wieder rum, nur halb angezogen. Die kommt auf unser Haus zu! Und wenn die schellt! Da bin ich nicht da. Hast du gehört, Britta? Wo steckst du - Britta!"

Volker stand, von einem Fuß auf den anderen tretend, hinter der frisch duftenden Gardine, durch die er auf die Frauenstraße schauen konnte.

Er hatte auf der Fensterbank den abgetropften roten Kerzenwachs vom Adventskranz mit dem weißen Wachs seiner Schreibtischkerze verknetet und flach ausgerollt zu einer schmuddelig rosa Masse, daraus will er einen Engel für seinen Tisch in der Schule formen. Aber der mißfällt ihm immer mehr.

Ratlos und immer dringlicher wandte er sich an seine Schwester in der Küche, halb rufend, halb flüsternd: "Die steht schon im Vorgarten am Törchen. Wenn die wieder bei uns schellt! Ich geh’ nicht an die Tür!"

Aus der Küche kommt keine Hilfe; da setzt Volker sein Flehen fort: "Was soll ich machen? Ich warte auf Heiner, der kommt doch gleich. Wir wollen zusammen Schulla machen. Da muß ich doch an die Tür. Und dann steht die da!"

Aus der Küche, wo Britta für heute nachmittag den weniger beliebten familiären "Innendienst" beim Tisch und am Bügelbrett hat, kommt ihre beruhigende Stimme: "Meinst du die Oma aus dem Vinzenz-Heim? Ist sie wieder im Bademantel davongelaufen?"

Zwei T-Shirts hat sie noch vor sich, eine Bluse für die Mutter, ihre feine Oberschulrats-Bluse, wenn sie wieder bei einer Lehrprobe hospitiert und für motivationsstarke Leistungen Noten geben muss, ja, und das neue Seidenhemd des Vaters - ihre Bügelaufgabe, hat sie für fünf Mark übernommen. Weil die Mama genug locker macht. Bevor sie sich an die Schularbeit setzen kann. Und ein Weihnachtsgedicht "In der Kirche" auswendig lernen soll.

"Wow! Britta! Wie die loswetzt! Kuck mal! Oma Schluffen rennt schon wieder wie - ja herum - und hümpelt, jaja -" Er beißt sich auf die Lippe! Heute zur Feier des Tages wieder mit grüner Hausjacke!"

"Die tut dir doch nichts. Reg' dich nicht auf, Kleiner!"

"Pitschnaß ist die schon; schau nur, wie es sie schüttelt, voll naß ist die. Was hat die denn nur für Klotschen an? - Warum lässt man die los?"

Britta beruhigt ihn von ihrem Arbeitsplatz aus: "Die will immer zum Rektor, das weißt du doch. Äh, wie heißt der noch, da unten, neben der Kirche?"

"Weiß ich nicht, ist mir auch egal. Die muß schon in unserem Eingang stehn, sie ist hinter dem Forsythienstrauch verschwunden. Ich seh' sie nicht mehr!"

Da, tatsächlich, es schellt auch schon bei den Schusters, danach sofort im ersten Stock, ob bei Beykirch, Janicki oder den Aydins, das ist vom Summ-Ton her nicht zu unterscheiden.

Pause, atemlos. Stille in der Wohnung. Was jetzt?

Doch, gerade, von oben, wie erwartet, wird der Türöffner gedrückt. Die Haustür springt auf, und sofort saust im Treppenhaus der pfeifende Wind, und ein schleifendes Geräusch wird vernehmbar.

"Sie ist schon an unserer Tür.“

„Volker, gib endlich Ruh!“

„Die von oben haben ihr wieder geöffnet. Da steht die bei uns jetzt! Das will der Serdar mir einbrocken. – Sau-Serdar! Das tut weh! gibt Senge!"

"Volkerchen! Was ist denn heut' für ein Tag?"

Lakonisch soll es aus Brittas Mund klingen. Volker nimmt es als reinen, bitteren Hohn.

"Magott! Schwester der Heiligen Ordnung!" stöhnt er theatralisch.

Im Flur klappt die Haustür. Dann bleibt es still. Und Volker rührt sich lieber nicht in seinem Zimmer, das sich am Flur nach vorne raus anschließt. Er hält sich lieber zurück. Die Küche liegt weit genug weg. Die Tür ist abgeschlossen von innen, ganz sicher. Der Schlüssel steckt. Was soll schon passieren? Im Kinderzimmer ruht Winnetou. Ein Pfiff - und -

Doch schauen beide Kinder gleichzeitig durch die gegenüberliegenden Türrahmen in den recht langen Flur.

Pst! zeigt Britta mit dem Finger vor den Lippen. Und in weiteren kreisend-abwehrenden Gesten des Kopfes und des rechten Armes: Sie wird schon verschwinden, nur nicht aufmachen, Volker! Ruhe halten! Das schaffen wir, Brüderchen und Schwesterchen!

"Heiners Schwester hat mal erzählt, die Frau wollte nach Münster fahren, zum Bischof, ohne Fahrkarte. Nicht mal 'n paar Cent hatte die bei! Da hat jemand die Alte in sein Büro geholt und ihr 'ne Tasse Kaffee spendiert."

"Vielleicht von der Bahnhofsmission?"

"Nein, da haben irgendwelche Spinner oder so Grüne ein Büro zum Angeben. Und die haben die Frau nachher auf einem Tandem nach Hause kutschiert. Huchu! Die haben sie auf ihr feines Tandem gesetzt!"

"Papa sagte mal so was Lustiges. Da hab' ich aber nicht richtig zugehört. Erzähl mir das später noch mal besser sortiert, ja? Du bist übrigens viel zu laut!"

"Und du erst! Himmgelgott!"

Hat er seine Schwester richtig verstanden? Egal, der Feind naht!

Volker hat einen roten Kopf gekriegt und atmet etwas schwer.

"Reg dich ab, Wolfi-Volkerchen! - Leg die Hand aufs Zwerchfell".

Sie spricht bewußt leise, aber deutlich: "Du weißt doch, langsam bis zehn zählen. Du ängstlicher Wolf, du aufgeregter Schwachmathicus!"

Es klingelt wieder, erst zaghaft; und nochmals, pingeliger, jetzt drängelnder. Das kann niemand überhören.

"Hopp! Kerlchen!"

Der haut aber ab – ins Kinderzimmer.

"Geh schon, du Faulpelz. Ich sitz' hier an den ollen Hemden! Und hab’ schon ein paar Falten reingeknittert. Verflucht, ist diese olle Bluse mit den Rüschchen schwer hinzukriegen. Was so hübsch aussieht, ist -"

Volker ist leise zu ihr in die Küche gekommen, auf Zehenspitzen über den Flur, in vier, fünf Indianerschritten, und drückt sich an sie und flüstert: "Sie ist immer noch da. Da, die hat bestimmt den Knauf in ihren Fingern und drückt dagegen."

"Kannst du nicht hingehen? Ich -"

"Geh du! Ich kann nicht mit ihr reden."

"Hast du Angst, Großer Wolf?"

Es schellt wieder, schellt, schellt - jetzt schon Sturm.

Volker, weggescheucht aus seiner Lieblingsecke in der Küche, vor der Heizung und dem rechten Fensterflügel, deren Scheibe schon mit einer Weihnachtsszene aus schwarzem Fotokarton geschmückt ist, fleht seine Schwester an: "Britta! Geh, bitte, ich weiß nicht, was die Alte, die Frau -"

"Die Frau - ihren Namen kenn ich auch nicht! Vater wußte ihn mal. Schabo-, irgendwas mit Scho -"

Volker hat heute den Außenminister spielen wollen; am Dienstag ist Britta dann wieder an der Reihe. Dafür hat sie heute den Innendienst, mit dem Abwasch (spülen und abtrocknen!) und ein paar Bügelsachen. Aber ohne Verhandlung verzichtet er heute lieber auf sein Vorrecht.

"Die muß gleichzeitig oben geschellt haben, vielleicht bei Beykirchs, und die haben ihr die Tür aufgedrückt. Wenn ich diesen Wolfgang zu fassen kriege! Oder bei Saritala. Klar. Der Serdar war das! Der hat sie mir auf den Hals gehetzt!"

Die Dame steht ist Flur, vor Schusters Tür. Jetzt drückt sie mit der rechten Schulter gegen die schwere Tür, ächzt so, dass sie es innen hören.

Volker, wieder im Flur, vor der Garderobe, starrt auf die Tür, die immer verschlossen ist, wenn die Kinder allein in der Wohnung sind. 'Ihr lieben Kinder!' hat die Mutter ihnen lachend beigebracht, 'wenn ich fort bin, haltet die Tür fest verschlossen.' Jawohl. Damit der böse Wolf nicht - wir wissen bescheid, Mama! Kannst ruhig den Vater besuchen gehen. Oder mußt du wieder zum Friseur?' (Das kann nur Wolfgang so liebevoll säuselnd fragen.)

Jetzt rappelt und prockelt ein Schlüssel von außen im Schloß. "Unverschämt, die Alte! Glaubt die denn -"

Nochmals wird gegen die Tür gedrückt. Der Schatten vor dem kleinkarierten Mattglas ist aktiv. Energisch und nah, dann sanft zurückfedernd.

"Britta!" Volkers lauter Notruf. Eher flehentlich als schrill und -

"Jetzt hat man dich gehört, auch die draußen: Hier ist jemand im Haus und macht nicht auf! Du bist ja doof!"

Wie brutal laut so eine Schwester sein kann, aber treten darf man sie nicht, sagt Mutter immer.

Schnell nähert sich die Schwester aus der Küche.

"Na, braucht der furchtlose Ritter Hilfe?"

Mit spitzen Fingern, aber versöhnlich krault sie ihm Nacken und Schulter. "Husch, ins Zimmer. Ich öffne. Was ist schon dabei? Die vergißt immer alles, und dann läuft sie los. ‚Bewegungsdrang, manisch oder so’, sagte Papa."

"Was heißt das?" - "Genau weiß ich das auch nicht."

Draußen stand die Dame, die sie, seitdem der Alten-Schuppen - pardon, denkt Britta, das Seniorenheim, eröffnet ist, schon etliche Male getroffen haben, wie sie auf der Straße stehen blieb, hinter einem Auto in einer Einfahrt, wenn sie sich Halt suchend an den Kofferraum lehnte, bis sie verschnauft hatte und wieder loszog, fast immer im cremefarbenen Bademantel mit der blassen, großen Rose drauf. Dann fing irgend jemand aus der Nachbarschaft sie wieder ein. Die vom Vinzenz-Stift in ihren fliegenden weißen Kitteln, manchmal eine schicke Weste drüber - sie haben keine Zeit, die alleinstehende Dame immer zu überwachen. Und die akustische Haustürsperre überlistet sie für ihre Ausflüge, indem sie einen Stahlstuhl vorschiebt, bis es nicht mehr piept. Hat Vater sich am Schalter erkundet.

"Wir können sie nicht anbinden", hat es geheißen. "Sie paßt auf den Verkehr schon auf. Und die Autos fahrn doch alle langsam auf der Elper Höhe!"

Nugott! Wie sie aber anreden? Wie hatte Vater wohl mit ihr geredet? Er hatte die Frau schon einmal im Taxi nach Hause bringen lassen, als sie zur Mittagszeit an der geschlossenen Kirche im Regen stand und im Pfarrhaus ihr niemand aufmachte. Vater hatte das Taxi zahlen müssen. "Sollte ich denn die Frau in dem Dreckswetter stehen lassen? Ich kann sie doch auch nicht auf dem Fahrrad heimtransportieren!"

Da hatte er vom "Friseursalon Yvonne" aus anrufen lassen:

"Befördern Sie doch bitte die hilflose Dame wieder in ihr Wohnheim; ja, hier den Parkweg hoch, zum Stift. Auf dem Kirchplatz können Sie drehen."

Die hatten Vater vom Taxidienst Weber ausfindig gemacht, waren sauer gewesen und ihn für die sechs Mark Fahrgeld, plus Erstattung der Ermittlungskosten von 30 DM, gehörig zur Kasse gebeten.

"Wie soll ich die anreden?" Einfach eine Frage stellen! Wie quatscht Volker jedes Kind auf den Spielplätzen im Schulbezirk an, das ihn interessiert? "Äh, du, denk mal nach!"

Und bevor sie in das verfaltete, irgendwie mild leuchtende Lampenschirm-Gesicht der Dame hineinsprechen kann, ist Serdar aus dem ersten Stock auf dem Treppenabsatz erschienen.

Er nimmt die alte Dame in den Arm und spricht, mit einem kurzen Blick zu den beiden in der Wohnungstür, sie an: "Aber Sie sind doch ganz naß, es ist doch viel zu kalt für Sie in Ihrer Sommerjacke; und wie es regnet! Sie sind hier aber ganz falsch!"

"Aber ich wohne hier doch!" Die Frau hat eine erstaunlich weiche, aber laute Stimme, die man diesem hageren Körper im flatternden Sommerdress gar nicht zugetraut hätte.

"Wo wohnen Sie denn? Aber doch nicht bei uns, doch nicht hier bei uns. Wir wohnen hier, da unten die vier Schusters! Und wir oben neben Beykirchs. Mein Vater heißt Evrim, äh: Evrim Saritala."

Serdar zeigt neben Britta auf das Türschild.

Jetzt steckt Volker seinen mutigen Wuschelkopf in den Türspalt, gegen den die Alte wieder leicht von außen drückt, und die Kinder von innen nicht mehr gegenhalten.
"Nein. Doch hier! Ja, hier!" Pause.

Britta spürt ihr Herz schlagen. Wie macht der Serdar das nur? Wo hat er das gelernt?

Da wendet sich die Oma ab: "Da wohn ich wohl nebenan." An der Wand sich entlang tastend, geht sie ruckweise zur Haustür zurück, durch die der müde, nasse Wind einfällt.

Serdar geht mit: "Oder wollen Sie zuerst eine Tasse Kaffee, mit Spekulatius? - Haben wir noch welchen...?" Die Frau wendet sich einfach ab. Hat die mich nicht gehört? Was tun?

"Aber nebenan wohnen doch die Deckers. Ganz bestimmt. Wir leben hier schon ein Jahr lang. Und die Schusters, die kennen uns alle!" Er fragender Blick geht zu Britta und Volker.

"Seit meinem dritten Jahr, als ich in den Kindergarten kam", erklärt Volker unter Brittas Arm hervorschauend.

"Dort wohnen aber die Deckers, nebenan! Und die haben keine Oma. Sie wohnen doch im Heim! Vater sagt -" er bricht ab, senkt die Schultern. "Gefällt es Ihnen da nicht?" Wer hat diesen Satz gesagt?

Serdar rennt hinter der Frau her: "Aber wenn Sie dort schellen wollen - Warten Sie, ich bring' Sie rüber. Wenn Sie Frau Deckers sprechen wollen? Aber bleiben Sie doch stehen!"

Wie schnell sie ist, die Seniorin!

Britta bohrt in der Nase, verschwindet dann: "Ich muß mir erst was an die Füße ziehen."

Volker quengelt: "Das ist mir zu weit. Kann ich nicht bei dem Gewerkschafter schellen, der gegenüber jetzt eingezogen ist. Hat Papa mal gesagt: Die Kumpels helfen!"

"Quatsch, Junge! Wir bringen sie selber zurück! Der Mann muß doch jetzt arbeiten und ist kein Krankenwagenfahrer."

"Hol mir den großen Regenschirm. Ja, den roten, mit der schrägen RUTLUK-Werbung drauf!"

Sie streifte die blauweißroten Hüttenschuhe ab.

"Volker, hol' eben deinen Schal! Bleiben Sie bitte stehen. - Ich meinte meinen Bruder." (Ganz laut jetzt:) "Ich ziehe mir eben die Turnschuhe über. Dann bringe ich Sie nach Hause."

Da ist Serdar schon mit der Dame im Arm über die Straße gelangt, ganz ruhig, als ob er das jeden Tag mache.

"Ja, nach nebenan, dorthin. Hier muß es doch sein", protestiert die Frau laut, "hier im Garten habe ich Tennis gespielt, und vor dem Gassentor war die Schaukel, an dicken, einbetonierten Holzpfählen und einem Querbalken aufgehängt. Einer krachte einmal um, verfault, der Kerl. Da habe ich mir den Arm gebrochen, weil ich aus der Schaukel rausflog. Da flog ich, da war ich frei. Da hatte ich noch Glück." Sie lacht und prustet und zeigt auf ihren linken, den ein wenig abstehenden Ellenbogen; irgendwie knubbelig schaut's da aus.

Volker steht schon hinter Britta am Fenster, mit ihren festen Schuhen in der Hand: "Mal sehen, wie du das schaffst; in weniger als vierzehn Minuten gibt es einen Sonderpunkt. Achtung, fertig, los! Der Sonderzug nach St. Buckel wackelt ab! ... Hey, los!"

Britta schnauft empört: "Warte, bis ich wieder zurück bin, du herzloses Luder, Du!"

"Ich wollte dir nur helfen, ehrlich!"

"Meinst du: mir den Mut nehmen? Und wo hast du nur diesen rotzfrechen Ausdruck her?"

Britta geht noch einmal in den Hausflur, sie droht ihrem Bruder hinterrücks mit einem ausgestreckten Zeigefinger. Drüben hat Serdar die Frau schon wieder neu am Arm gefaßt, als sie die Beuge lösen wollte, und führt sie, geruhsam Fuß vor Fuß setzend, die drei nassen Stufen zur Vordertür bei Deckers rauf.

Die Frau ist fit und gesprächig, erstaunlich, denkt der Bursche, hoffentlich kann ich auch eine so alte Sprache verstehen! Sie lächelt: "Hängen Sie sich ruhig ein, junger Mann! Ich passe schon auf, mein Lieber, für uns beide!" Der Junge hat die spaßige Anrede verstanden, und er fühlt schon etwas wohliger in seiner unfreiwilligen Rolle als Helfer. "So, den rechten Fuß jetzt, im Takt, Junge! Prima, geht doch prima! Esbero-Esbero! Und nochma: Esbero-Esbero!"

Von der leichten Anhöhe her, Serdar, Volker und die Truppe von der Gudrun-Pausewang-Grundschule nennen ihn Kanarienberg, wegen der auffällig bunt gestrichenen Südseite des Seniorenhauses mit ihren vorgebauten Balkonen, nähert sich ein Lieferwagen.

Serdar fällt es wie ein Schrecken ein: "Ach, schon der Obstbauer! Schon so spät. Mutti könnte schon kommen, aber hoffentlich denkt Selma an das Gemüse: 2 Pfd. Tomaten, sechs Bananen, ein Töpfchen Basilikum, einen Zopf Knoblauch. Und noch was! Hab ich aber vergessen, waren sechs Sachen, Scheiße!"

"Was sagst Du, Junge?" Den Atem verteilt sie immer geruhsam, nach drei, vier Worten neu einziehend, ei ausgetoßenen Wölkchen sind klein wie bei Serdar. "Warst du irgendwo in Urlaub?" Neues Schnaufen. "Ach, nein vor Weihnachten wohl nicht." Wieder eine Verschnaufpause. Sie haben sich zurück zur Straße gewendet und schauen dem herannahenden Unheil ins Gesicht. "Sag, mal Junge, aus welchem Land kommst du? Da ist es im Winter bestimmt nicht so kalt?"

Auf dem Bürgersteig streckt die Frau ihren linken Arm eckig weit vom Körper ab. Serdar legt sein rechtes Ärmchen in die Lücke hinein; es ist ein sicher machendes Gefühl (sagt man hier so?), als habe er die Verantwortung, ungewohnt, und die Dame schließt wieder die Armbeuge: "Häng dich ruhig ein, Junge. Wie alt bist du?" Stehenbleiben und Atempause, wir schaffen es. "Das klappt schon, bestimmt. Wir schaffen das."

Sie scheut vor dem bremsenden Obst- und Gemüsewagen eines Ökobauern zurück, der langsam mit dem Vorderreifen seines bunten Kombis auf den saumatschigen Gehsteig rollt und hofft, dass er noch einiges loswird vor dem vierten Advent: Kartoffeln, Winterastern, Gemüse aus seinen Treibhäusern.

Serdar beruhigt sie: "Der Lieferwagen hält bei Blochs, kuck, da steht er schon, keine Angst! Aber wo haben Sie denn früher gewohnt? Wir kennen Sie schon lange vom Zusehen aus dem Fenster her. Volkers Vater hat Sie doch einmal mit dem Taxi -"

"Frau Adams bin ich, äh, heiße ich, Witwe Adams: Mein Mann - der war -" Ihr Gesicht erstarrt fragend-nachdenklich. "Ja, der war Apotheker in der Amandus-Apotheke." Sie freut sich. "Ja, in der - wie hieß sie nochma -"

Serdar kennt hier keine Amandus-Apotheke.

"Hier in unserem Viertel? Frau Adams, hier in unserer Stadt?" Er fragt noch einmal in das milde, gefältelte Antlitz mit den zwei großen Augenhöhlen, wie in ein altes Gebetbuch hinein, mit der jetzt sichtbaren, fast blankgedrückten, roten Abdruckstelle einer Brille auf dem wunden Nasenrücken.

"Esbero-Esbero!", flüstert sie, ein Abrakadabra-Wort.

Vom Vinzenz-Stift her kommt ein weißer Kittel ihnen entgegen, flatternd, rüttelnd, pflegebewußt aufgeregt.

"Sie wohnen doch schon seit einem halben Jahr im Stift! Sie stammen nicht von hier, sagt mein Vater immer. Der kennt Sie auch. Einmal, als er von der Arbeit kam, im Winter -"

"Sonntags, ja, im Winter auch, kommt doch wieder Marie-Theres, meine letzte Tochter, verstehst du? Oder muß ich in die Stadt? Fragst Du bitte meine Pflege-Schwester, Junge? Die wohnt in der Bahnhofstraße, oder da am Bahnhofsvorplatz. Nummer 8. Und kommt heute nicht. Oder muß ich morgen?"

"Sind Sie hier immer noch fremd? Ich glaube, Ihre Kinderstadt ist eine halbe Stunde weg von hier. So mit dem Auto. Sie wohnen" (und jetzt betont flüsternd, wie im schlechten Gewissen:) "im Altenheim! Hat Ihnen das niemand gesagt! Bei uns kennen wir solche Häuser nicht. Unsere Ältesten brauchen nicht mehr zu arbeiten. Sie spielen mit den Kindern, den ganzen Tag lang, wenn die wollen. Vater sagte uns, dass Sie wohl etwas vergeßlich sind. Und gern spazieren gehen. Und vor den Blumen im Sommer in den Vorgärten, da Sie - davor -" (beten, yasamak, oder leben, furchtbare Sprache dies!) will Serdar sagen: "Da beten Sie vor, sagte der Volker von denen da, vor den Tulpen und so!" Der da, er zeigt zurück.

Das alte Gesicht überläuft ein listiges, verrutschtes Lächeln: "So? Ja? Das hat mir noch niemand gesagt. Aber wo wohnen wir hier. Dass ich hier wohne? hast Du gesagt, Junge? Esbero-Esbero. Nein, Teufel, oh, Anneliese, du fluchst ja, da geht es dir heute aber gut! Dass ich da wohne, hatte ich glatt vergessen. So was, Junge!"

Aus dem linken Mundwinkel der Dame läuft eine feine Speichelspur bis zum Kinn, wenn sie spricht. Ob sie sie abwischt?

Da setzt sie ihr "Esbero-Esbero-Esbero! Esberi-esberotox vital, für Hühner, für meine lieben Kalkhühnerchen, auf in den Altenbuckel!" fort, dann nimmt sie mit der gedrehten Zunge - igitt! zu sehen! - genießerisch und säuberlich die Spucke unter der Lippe wieder auf.

"Was heißt Esbert, Frau Adams?" Er freut sich, sich mit dem verrückten Wort Adams ein wenig einzuschleichen in das gemütliche, umkreisende Lächeln auf den trockenen Lippen. "Ein Hund, den Sie früher hatten, vielleicht ?"

"Ach, das, das weiß ich nicht, nein, das weiß ich nicht mehr, ein schönes Wort für meinen Mund! Die Zunge gehorcht dann wieder. Ich kann sagen, was ich will. Siehst du: Esbero-Esbero. Aber ich glaube, wo du mich fragst, warte mal, mal verschnaufen, hach, so heißt ein Medikament, das ich immer nehmen soll. Ich nehme es immer hinter die Unterlippe, bei der Ausgabe, und spuck, landet es später im Vorgarten, immer in die letzten Astern. Eure sind die schönsten! Esbero-Esbero-Esberotox im Pott! Oder Esberítox -?"

Sie ruckeln langsam. Und lachend. Auf den Schwestern-Kittel zu, geruhsam in ihrem steif-langsamen Takt, rechts hochgehoben den schweren orthopädischen Schuh, dann, immer mit der Ruhe, links das Bein nachgezogen. Kann sie nicht viel schneller schlurfen - selbst in ihren Pantoffeln ist die schneller als jetzt. Was Vater -

Die weiße Kittel-Frau will die Flüchtige schweigend in Empfang nehmen.

Die ruckt den Kopf vor, wie mit einer Adlernase ist sie unterwegs zum Nest, ob es ausgeräubert worden ist, denkt Serdar. Wie am Ziel, ihrem gemütlichen Ort, angekommen, da schreit sie die Diakonie-Schwester an: "Das sagte mir eben der Junge hier, dass ich hier wohne! Müssen Sie mir doch sagen: Sie müssen mir jeden Morgen in der Andacht sagen, dass ich hier wohne. Da kann der Pastor ja wohl dran denken - Wie hieß das-?" Sie klopft sich auf die Wange. "Ja! Ja! Im Frühtau zum Berge!"

"Zum Herrgott, glaube ich. Im Frühtau zum Herrgott! Das ist doch die richtige Kirche, ja??" - "Frau Adams, was machen Sie für Geschichten? Was will der Junge von Ihnen?"

"Wie schön leucht' mir der Traubensaft? - Das ist mein eigenes Lied! - Woher wolln Sie das denn wissen!"

"Komm'n S', Frau Adams!"

"Haben Sie ein Taschentuch für mich, kein Tempo! Dass ich hier wohne! Das konnte ich gar nicht glauben. Wie kann ich das denn behalten? Das hat mir der Junge erst erklärt! Geben Sie ihm fünfzig Mark von meinen Wertpapieren, nein fünfhundert! Hat Hochwürden von Liebfrauen die Zeit dazu, zu einer Kaffeevisite - nach dem Gebet für meinen Mann? Mir das jeden Morgen zu erklären? Kann er das? Gottauch!"

Sie läßt sich durch die Eingangstür, deren Lichtschranke ein gedämpftes Schellen in der Aufsichtskabine im ersten Stock auslöst, zum gegenüberliegenden Aufzugsschacht schubsen.

Die üppig glitzernde, sanft farbige Festdekoration - tanzende Engel-Mobiles, weit ausschwingende Weihnachtsbaumketten aus Dutzenden von Mini-Lichtpünktchen an den Wänden, die schwebenden, die klingenden Glöckchengirlanden über den Türen, die mit goldgelben Stroh- und roten Glanzpapiersternen geschmückte, bis zur Decke greifende Fichte - legt im Einklang mit den warmen, gedimmten Lichtstangen der Neonröhren einen erwartungsvollen Glanz aufs geräumige Foyer. Eine dunkle, fast dumpfe Stimme sang feierlich: "Vom Himmel hoch -".

Frau Adams kneift mit den Augen, wendet sich wie geblendet ab, hält den linken Arm fest an den Körper gepreßt und befiehlt: "Tun Sie meinem Arm nicht weh! Der ist verletzt! Das steht in meiner Akte!", so dass die Schwester ihre Hand, die sie dazwischen schieben will, wieder sinken lassen muß.

Dem kleinen Kavalier, der hilflos vor dem Lichtgefunkel im Eingang stehen geblieben ist, aber flüstert sie zu: "Nächste Woche besuch' ich wieder die Schusters, aber hinten rum von der Gartenseite her. Da kenn ich mich aus. Sag' da schon mal bescheid, mein Junge!" Verwirrt schaut der ihr nach: "Auf Wiederse -". Schiebend, schlagend, schellend rucken die Fahrstuhltüren auseinander. Im engen Innern leuchten Lichtbänder blinzelnd an den grau-metallic Wänden hoch. Klingelnd und scharrend schließen sie sich langsam wieder, da ruckt sich Frau Adams noch durch und schiebt sich, gegen die Türen pressend, hinaus mit einem Arm.

"Da hab' ich wieder was vergessen, Junge. Du wohnst also in Schusters Haus? Da unten, der alte Herr war mein Lehrer, ja, das muß der Opa von diesem Jungen sein, der mir geöffnet hat. Ich wollte den Rektor doch heute besuchen und ihm diese Pralinen -" Sie greift in die Schürzentasche unter der Jacke und zieht etwas Zerknittertes im Cellophan heraus! "Ach, auch das hab' ich wieder kaputt gemacht! Das sind ja Zigarren in der Tüte, du dumme Liese, sagte er immer. Da wird Herr Schuster aber schimpfen! Ich mußte ihm immer Zigarren holen, echte Sumatra vier für 15 Pfennige, einmal in der Woche. Nun hab' ich's vergessen! Ich dumme Hümpeltante!" Serdar schiebt ihr einen Stuhl hin, der in der Nähe der Loge steht. Sie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: "Junge, wie heißt du eigentlich, vergißt du auch alles? Weißt du, der Rektor - jetzt ist er gewisslich 95 Jahre. Ja, so alt werden nur die besten Lehrer. Einmal wollte er mich schlagen, weil ich die Zigarren zerknautsch hatte. Ich war, ja, ich weiß, vor einem Hund war ich so schnell gerannt, und der hat mir doch noch in das Bein gebissen, die Zähne durch die Strümpfe gesetzt, ein ganzer Zahnring, ach, ja, der Kakeldackel vom Hausmeister! Oder war es der Küster? Der mit seinem Gefullel! Und da hat der Rektor mir gesagt, weil er das erkannt hat mit dem Köter, obwohl er ja wütend war, hat er verkündet - Was nur? Ich, natürlich, ich weiß es wie heute: Wer vor einem Hund wegläuft, Annelieschen, der wird gebissen! Meingott, Kötter die!"

"Darf ich - darf ich - äh, dem -?" Serdar traut sich zu lügen,"dem Rektor - dem Herrn - Volkers Opa, dem alten Herrn Schuster die Zigarren bringen? Mein großer Bruder kann die wieder mit Spucke kleben. Der hat mal aus zwei Zigarren drei gemacht, weil er selber eine geraucht hatte, und Angst bekam vor Papas Besuch, für den waren die letzten gezählt!"

"Bulton heißt der! Das kann der! Na, also, da bin ich ja stolz, dass ich dich - aber ganz bestimmt noch vor dem 4. Advent! Mein Herr Rektor freut sich auf Besuch! Ich durfte einmal alle Zeugnisse abstempeln bei ihm, mit einem Siegel so groß wie ein Rad. Ja, in seinem Rekto-„ sie rundet die Lippen, kichert: „in seinem Rekto-RAD! Joho-hihi! - Auf meinen besonders! Jawohl! Jedes Jahr darf ich ihn besuchen. Ja! Wie im vorigen Jahr! - Und seine Frau besuch' ich auf dem Friedhof. Zehnte Reihe, bestimmt, ja? Oder achtzehnte - vom Kalvarienberg weg - Oder? - Stimmt doch: Greversweg entlang - und dann - ! Gottverdammich! Warum vergess ich alles!"

Jetzt schließen sich hinter den Personen die Schiebetüren wieder langsam ruckend, die Schwester hat schon in der offenen Zelle gedrängelt. Da ruft noch ihre hohe, helle Stimme aus der dämpfenden Kabine heraus: "Junge, du mußt nach mir schellen! Ja? Ja? Ich hab immer Kuchen -"

"Frau Schluffen...?"

Sie tritt nochmals aus dem Aufzug heraus:

"Ja, ich hab immer Kuchen, wenn du kommst. Und etwas von Dechant Brimmers und seiner Kirche bringen. Hier nimm mal die Tüte. Da ist Spekulatius drin. Selber gebacken. Die hab ich ihm von seiner Garderobe genommen."

"Aber, der - der - ist doch nicht evangelisch - Frau -!"
"Aber die Straße hier, die zweite rechts, die heißt doch so! - Aber wenn euch das lästig ist -!"

Sie sinnt ein wenig. Dann fuchtelt ihr rechter Arm wieder hinundher.

"Oder bringt mir den Rektor Bulton vorbei. Gottder, auch tot! Und Brimmers tot. Der hat mir auch alles in der Volksschule erklären können. Auch wenn ich meine Krämpfe hatte - Und dann lag ich da auf einer Matte. Und die haben mich festgehalten. Das hat nicht wehgetan. Und den Schaum vom Mund gewischt. Helga - die war immer dabei. Gottvoll! Meine Freundin - die wohnt auch am Greversweg. Und - manchmal kam Frau Bulton."

"Aber, wann war das, Frau - das war doch Ihre Jugend -!"

"Ach, was! Ich geh doch immer noch in die Liebfrauenschule. Der Rektor, der hat da immer was im Pult liegen für fleißige -" ein leises Klingeln, ein letzter, gedämpfter Ruf: "Tür auf, ja? Besuch mich! Junge! Nummer dritter Stock undach, Gottwo-"

Die surrenden Geräusche verschwinden nach oben.

Serdar hat sich auf den Stuhl gesetzt, ihm ist ganz warm. Er sieht die Tüte in der Hand. Was soll ich damit: Er schaut auf zwei angerauchte, halbe Stumpen. Kalt. Stinkig.

Und das Tabakgebrösel.

Dem Volker unterschieben?

Da sieht er neben rechts dem Aufzug einen Papierkorb.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen