Sonntag, 24. November 2024

Story - vonne Schualle

   

Erlebtes im Schatten des Tulpenbaums (der nur zwei Wochen blühend das Frühjahr leuchtet)

N o c h -

 'n Zentimeterchen oder drei

 "Nur knapp sechzehn Minuten hat das gedauert! Als ob ich ihn fertig machen wollte, den lahmen Burschen!"

"Was hast du dem da aufs Auge gedrückt?"

"Hier, das! Knackig, kurz und kross, sozusagen!"

"Was? Simmels '26 Zentimeterchen Zärtlichkeit'"?

"Ja, sicher, ist doch eine piffige Sache! Eine Wohltat im Gewirr moderner Prosa, die nur ein paar Kritiker lesen und viele Schöntulinge kaufen und ungelesen ins Regal stellen. Wo findest du sonst eine so schöne, erotisch doppelsinnige Erzählung? Nicht pornographisch, nicht hochliterarisch, noch nicht klassisch, was willst du mehr, wenn due deine Leutchen an Literatur heranführen willst."

"Und wie soll der Junge damit zurecht kommen? Der tut sich schwer, im Unterricht den Mund aufzumachen. Und da sitzt er vor den Lehrerschabracken in der Prüfung - und da geht ihm der Mund erst gar nicht auf!"

*

Ein paar Worte herüber - ein Einsicht hinübergeschossen:

Erotik ist ein Spiel, eine Übereinkunft zwiwschen zwei partner, einen Menschen und einem Text, einen Film und seinen Zuschauern, zwischen zwei, die freiwillig eine oder zwei oder alle Stufen zum Sex erklimmen wollen un sich die Angelegenheiten was kosten lassen: Lust, Schmerz, Erkenntnis, ästhetische Vollendung.

und dda sezt du jemandem - ich hab den zweieinhalb Jahre im Pädagogikunterricht. Da kriegte er bei den einfachsten erzieherischen oder psychischen Falldarstellungen nicht die Zähne voneinander. Oder in eigenen und Beschreibungen - nix, aber ihn intressierte das, hat er mir mal in einem Gespräch gestanden.“

"Gut gemessen ist auch total vorbei! Benn posthum!"

"Du meinst, postmodern?"

"Nein, mußt du mal einen Menschen mit Latein fragen. Dengert z.B. Der wartet auch Ansprache, sonst flüchtet er sich ins Schüler-Jagen."

Hattest du gerade kein passendgesichtiges Mädchen, um an der dein Vorhaben auszuprobieren?

Sag mal, wie hst du im Abiturausschuß denn diesen Hokussexospokus dargestellt und durchgekriegt. Ich hätte dir eins auf deine schwielig-feuchten Pfoten geben. Das sag ich dir."

 

*

 

"Aber", das zeigt Krüger dem Redebach am nächsten Tag: "das heißt doch 23 cm Zärtlichkeit! Sieh mal! Wo hast du denn den Druck her, mit 26?"

"Aus einem Entwurf für ein neues Lesebuchs. Hier, kuck! Eine Kopie von irgendjemandem am Landesinstitut für Fach Sowieso mal Curricula-Sößchen und Richtlinien-Fonds."

"Als Kinder haben wir immer das 'Vater unser' lateinisch vorbeten müssen beim Schule spielen. Keiner konnte es. Aber alle hatten es irgendwie ganz deutlich mit vorangestelltem P gehört. Und dann prusteten wir los, wurden höllisch bestraft mit Nachsitzen und riskierten es doch immer wieder: Pater punser, per pu pist pim Pimmel... - So schwillt Bedeutung an. So prangen Pose und Pimmel, Poesie, Prosa."


*

Sions Jubelpsalmen

oder

Amen-Samen!

 "Frau de Weijer! Davids Samen! Kommt dat heute ma endlich dran?"

"Wat is dat? Is dat Sperma? - Vielleicht mit wat AIDS?"

"Setzt euch erst mal.

"Kriegen wir heute die Aufklärung?"

"Erst mal setzen, hab ich gesagt, ihr Rasselbande!"

"Oh, Fräulein hat wieder gute Laune. Wir sind wieder ihre Rasselbande!"

"So, überzieht es nicht! So, jetzt, Frieder, sag noch al das Problem."

Der Junge in der dritten Reihe, der zuerst die Bobachtung zu dem 'Lied Sions, sing Juelpsalmen' gemacht hatte, faßte seine Frage nochmals zusammen.

"So und jetzt habe ich hier unser Gotteslob! bitte austeilen.

Und dann habe ich euch hier einen Text aus einem evangelische Gesangbuch mitgebracht. - Also, Henning, lies mal Lied Nr. 920!"

"Sion, singe Jubelpsalmen,

sieh, dein König naht heran,

eil entgegen ih mit Palmen,

streu ihm Blumen auf die Bahn!

Dieser ist von Davids Samen,

Gottes Sohn von Ewigkeit!

Der kommt in des Herren Namen,

sei gelobt, gebenedeit!"

 

Dann wird im allgemeinen Palaver zusammengefaßt, nochmals erklärt, an die Tafel geschrieben:

Jude Jesus, Sohn des Tischlers Josef aus Mazareth, Messias - Gottes Sohn aus dem Geschlecht Davids

 

Jetzt aus dem Evangelischen Gesangbuch. Schlagt bitte Nr. 508 auf. Wer liest? Ja, Helma?"

"Wir pflügen und wir streuen

den Samen auf das Land,

doch Wachstum und Gedeihen

steht in der Himmel Hand:

der tut mit leisem Wehen

sich mild und heimlich auf

und träuft, wenn heim wir gehen,

Wuchs und Gedeihen drauf."

 

"So, jetzt das Gottesbild, das uns hier entgegentritt?"

Werhat gelsen, von wem ist das Gedicht?

ja, richtig, Angela?"

"Mathias Claudius!

Zum Abschluß, aha, was können wir also hier noch hinzufügen? Ja, für den Gottesohn, den Messias.

Herrschaftsanspruch aufgrund einer bestimmten königlichen Abstammung als Beweis für die göttliche Abkunft.

 

Sie einigen sich auf: Traditionelle Form der Legitimation des Gottes Sohnes, weil Menschen seine Herrschaft bezweifeln.

Also, wieder die Göttlichkeitskriterien! Da werden wir morgen weiter ddrüber sprechen.

*

 

Wütend schmiß der Kollege die Brocken auf den Tisch im Konferenzzimmer.

"Da, schau mal!"

Ich sah auf der Kopie eines Formaulars die Aufstellung: Zuordnung der Einzelvorschläge zu den Schülergruppen: Für Gruppe A die Vorschläge 1, 2, 3, 4; für die Gruppe B die Vorschläge 2, 3 4, 5.

Und dann legte Hein mir den obersten Schrieb drauf, vom Dezerneten Rücker unterzeichnet: "Genehmigt: Ausgewählt für die Gruppe A: 1, 2, 3. für die Gruppe B: 1, 5, 3.

"Ist ja nicht zu glauben, womit die sich beim RP beschäftigen: Buchstaben falsch übertragen. Und dann? Was hast du gemacht!"

"Ich hab niemandem was gesagt. Du bist der einzige, der! Also: Klappe zu! Ich habe einfach den schönen Text von Josef Roth gegeben, den der Rücker wohl aussortiert haben wollte."

"Was willste denn mit der Kopie des Vorgangs?"

Freund Hein fächelt sich damit Frischluft zu. Na, gut, die pfeife paft schon wieder. Die Schüler sitzen jetzt über ihnen und wringen aus sich heraus, was OStR. Hein in sie hineintröpfeln ließ.

"Aha, verstehe: Und wenn du es doch in deinen Memoiren aufschreibst?"

"Na, gut, dann mit falschem Beamten-Namen. Sonst kommt noch der Herr Rück oder Sowieso und will mich nach 120 Jahren belangen. Pardon, da sind mir die Buchstaben durcheinander gerutscht: 210 Jahren!"

"Und, sag mal, der Dezernent hatte dir doch deine Wortwahl lin den Aufgabenstellungen angekreidet."

"Eben. Und da ich mir das am Telefon nicht gefallen lassen wollte,hat er mir eine Seite handschriftlich verpaßt. Und aus einer monierten Stelle waren drei geworden. Aber das ist eine andere Geschichte."

 

 

Reden über einen Abituraufsatz über ein modernes Gedicht, das von der Liebe spricht

 

 

"Sagen Sie mal, Frau Koch, ich hab gestern nur erst in zwei Arbeiten reingeschnüffelt. Eine ganz Sensible, die Annette, die kenn ich aus der Mittelstufe, spricht vom KZ. Ein Drittel ihrer Arbeit macht das aus."

"Ja, vom 'Lager' in der Zeile 7 als einem Konzentrationslager."

"Und beschreibt, als sähe sie das Blut, gezeichnet vom Stacheldraht der Ideologie! Vertreten durch einen Gestapohenker."

"Ja, die kann solche Assoziationen ziehen, das ist ja manchmal nötig im modernen Gedicht. Wie sollen Schüler sonst durch das Gestrüpp der Metaphernquälereien durchkommen?"

"Aber das Lager ist doch das Bei-Lager des Paares: das lyrische Ich an seine Geliebte -oder das weibliche Ich an ihren Geliebten. Das Lager, von dem sie berichtet, das da unter der Linde, 'da unser zweier bette was, da mugget ir vinden'-"

"Wie? Man muß doch mal auch was Modernes geben können! Der Text ist doch schon eine Perle der klassischen Moderne. Und die Bachmann nicht nur tot, sondern sozusagen geadelt, auch von Reich-Ranicki, das weiß ich zufällig!"

"Aber wie ist so ein Schmuckstein gefaßt, gedanklich, in seinen Bezügen zum Psycho-Ich und dem Partner und erst intentional? - Ja, ein Liebesgedicht! Eine Elegie, rot wie Blut. Besser von Blut!"

"Was? Ja, ja: 'Dunkles zu sagen', zentrale Metapher! Hermeneutik der Hermetik, wie? Das wär ja nun zu viel verlangt von Schülern! Die sind ja noch nciht erwachsen. Was haben die denn schon mitgekriegt von Liebe. Die sehnsüchteln ja noch. Die Mädchen. Die Jungs helfen sich mit Alkohol. Aber die Mädchen, die schreiben noch immer schöne Gedichte und verstehen auch ein anderes weibliches Ich, das sich ihnen eröffnet."

"Aber haben Sie denn nicht mit den Schülern die Unterscheidung eines Liebes- von einem politischen Gedicht geübt? - Und die Liebesklage? Des Orpheus nach dem Tod seiner Eurydike? Und sein Gang in die Unterwelt? Nicht im Unterricht behandelt?"

"Ich hab das doch in einer Fußnote angegeben, als Mythos. Was wollen sie eigentlich?"

"Ja, das schafft man moderne PCs mit dem kleinen Finger.

Also, kein Orpheus? Was dann?"

"So zwischen Tür und Angel kann ich mich nicht über ein Lebensschicksal unterhalten!"

"Wessen Lebensschicksal? Der Bachmann? Oder der Schülerin? Muß ich Ihnen das alles schriftlich auftischen bei der Korrektur? Ich finde es übrigens von den andern Fächern her üblich, daß Sie mir den ganzen Summs, der für die Genehmigung zum RP gegangen ist, zur Kenntnis bringen."

Die Kollegin ist schon enteilt, in eine Springstunde, die sie alleine in der Bibliothek verbringen will.

Und noch ein gedachtes P.S., nachdem die Frau die Tür zuschlagen hat: Ich hab nachgekuckt: 1953 veröffentlicht. Unter biographischem Anspekt, äh, Aspekt, kann man das Gedicht als Klage auf Max Frisch lesen.

Ort und Thema des gestörten Dialogs:

Vor einer Tür in einem Gymnasium. Eine Lehrerin und ein Kollege, gelernte Germanisten, die sich über eine Abiturarbeit einer Schülerin im Leistunskurs an einem Gymnasium in Westfalen unterhalten, deren Bewertung sie gemeinsam zu erarbeiten haben.

 

 

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