Gaesdoncker Lehrer-Porträt I
Walther B r ü x - Künstler - Lehrer -
Kulturvermittler
"Quos Gaesdonck iunxit, iunctos non dirimet
aetas...." (Als Spruch, als Kanon - ein gern zitiertes Sprüchsen,
pardon: W i t z! Was früher einmal Wissen - etymologisch gesehen - hieß.)
Was für
eine I-, eine I-d-i-o-n, pardon: eine gemeinschaftliche Idee, ein
Ideolekt, ein ganz selbstverständlich geschäftiger. Sicherlich, wer
fünf oder volle neun Jahre dort in seiner Zeit, Selbstständigkeit
und EigenEntwicklung behindert wurde, der mag sich schon betroffen
fühlen - ob positiv oder negativ - muß im Einzelfall entschieden
werden..
Walther Brüx: Joseph Beuys (Porträtbüste 1946)
- Stiftung Museum Schloss Moyland/Maurice Dorren-
Gedenken möchte ich - als langfristige Aufgabe meiner
Erinnerungen über Schule und Erziehung und Gesellschaft - der
Lehrer, die andere Schüler und mich vorbildlich und persönlich
förderten, deren Weg und Markierungen, also Wegezeichen auf der
Bildungsinstitution Gaesdonck (im vorigen Jahrhundert einmal als
"Priesterhilfsanstalt" firmierend) bei mir also nicht
spurenlos bleiben sollten...
Wichtige Namen seien verraten: Paul Reher-Baumeister,
Franz Hermes, Laurenz van der Linde, Martin de Weijer (der Verlorene,
der sich in den Ehestand verabschiedete), Kurt Abels und Walther Brüx
- und mit ihm, dem
liberalen, kunstsinnigen Exoten auf dem Kasten, der Kendel-Kaserne,
pardon: im Kasten, möchte ich meine Erinnerungen des Zeitraums vor
1965 fortsetzen... Bevor der Kreideschlamm des Vergeblichen, des
Vergessens sie fortschwemmt...
*
Na,
schön, ich zitiere den großen Pädagogen Dr. Reher-Baumeister über den Sinn der
Ferienfahrten nach Randa, in die berglich gesegnete Schweiz:
Die
Schönheit der Berge läßt sich nicht trennen von ihren Gefahren;
wer die eine liebt, muß willens sein, den anderen zu trotzen.
Über
zwanzig Viereinhalbtausender - das sagenumwobene Matterhorn, der
majestätische Monte Rosa, der gewaltige Dom als höchster Gipfel der
Schweiz, das wild zerklüftete und gefährliche Weißhorn gehören zu
ihnen - zwingen zum Staunen, zur Bescheidenheit und verlocken zu
kühnen Unternehmen.
„Je
tiefer man läuft, um so höher wachsen die Berge. Sie dulden keine
Falschheit, sie hassen alles Heimliche. In kühner und freimütiger
Entblößung, wie sie da aufrecht stehen, so wollen sie auch die
Menschen haben.“ (H. Federer)
*
Aber zu Wichtigerem: Mich und meine Erinnerung
täuschendes Verlangen: Ein
Satz aus einer Rede - der einzigen aus Jahrestagen auf der auf-gedonckten
"Gaensewiese", an die ich mich noch nach vierzig Jahren
erinnern kann, sollte - in meinen Gedächtnis - so heißen: "Und
das schwere nasse Tuch der Spalterflagge klatschte auf den Stein, auf
das Dach des Brandenburger Tores. Das Volk jubelte..." Thema 17.
Juni 1959. Ort des Geschehens: in der alten, muffig dunklen Aula
unter dem aufwärts strebenden Dachgebälk des Ostflügels.
Zwar habe ich noch rudimentäre Erinnerungen an
Abschiedsreden, an Abiturreden - aber nur schal und flach und
gespenstisch in ihrem eintönigen, uninspirierten Verbalbrei
paulinisch-puritanischer Eigenheit und der elitär-konservativen
Weltflucht - zu sehr waren Thema und Wortwahl und Intention immerdar
gottgegeben und gleich: Christ sein, Opfer bringen: Verzicht,
Aufgabe, Ergebenheit, den Bruder Adam mit all seinen Tricks in sich
bekämpfen, froh sein, sich nicht (so oft) selbst befriedigen
(zugegeben, im Flüsterton, im Dunkel und Unpersönlichen der
Beichtstühle....); da blieb schon eher das nach jeder
Direktorenansprache zur Verabschiedung in die Sommerferien gebrummte
Liedchen im Gedächtnis "Nehmt Abschied Brüder, ungewiss ist
alle Wiederkehr"! Und diese Töne, Worte, Vokale und Zuckendes
beschleichen mein Gedächtnis mit geimpfter "Wehmut" noch
heute, wenn ich an Abschiede, sprich: tödlichen Verluste, auf der
Gaesdonck denke: verlorene Namen: der U. auf seinem Motorrad, der G.,
im Auto seiner Eltern - verunglückt, tot; sie tauchen auch im
Gedächtnis von Klassenkameraden nicht mehr auf. Nur Abiturienten
- sie stehen für spätere Siegesparaden eingeschrieben in die
Geschichte der Gaesdonck, wenigstens in ihrer Matrikel, aber nur noch
in ihren Familien unvergessen...
Nun - ich fand die "Fahne" aus der Rede zum
17. Juni 1953 nicht. War es eine "Flagge", das "Fahnentuch"
gewesen? War es nur das nasse schwarzrotgoldene "Tuch"
gewesen - was mein Interesse an diese Rede, an den 17. Juni 59
wachgehalten hat? Hatte ich das, was mich da mahnend interessierte,
im Kopf verändert, für meine Zwecke variiert, nach meinem Gusto
gestaltet, mein Interesse initiiert?
Ich suchte nach. Denn, wer sucht, der darf finden, weiß
der unvergessliche Volksmund:
Walther Brüx:
Was geht uns der 17. Juni wirklich an?
Diese Vorbemerkung finden wir in den Gaesdoncker
Blättern (Ausgabe Juli 1960): Wir geben einen Teil der Ansprache,
die Studienrat Walther Brüx in der Gedenkstunde zur Volkserhebung am
17. Juni 1953 im vorigen Sommer hielt, wieder.
Was geht uns der 17. Juni wirklich an? - Nicht nur
als Deutsche, sondern als Menschen schlechthin?
Ich kann es mir ersparen, die äußeren Geschehnisse
dieser Tage nochmals vorzutragen, da dies in verschiedenen
Stunden bereits geschehen ist. Wir wollen unseren Blick heute
vielmehr auf die Dinge richten, für die das äußere Geschehen nur
sichtbarer Ausdruck war. Der unmittelbare Anlaß der Revolte,
der Protest gegen die Erhöhung der Normen bei den Bauarbeitern, läßt
für uns ja zunächst gar nicht den Schluß zu, er sei Motiven
entsprungen, die unser echtes Mitgefühl beanspruchen könnten. Das
wäre vergleichsweise so, als ob wir die von den Gewerkschaften
organisierten Streiks um Lohnerhöhung als besondere Tat feiern
würden.
Was für gewichtige geistige Triebkräfte standen nun
hinter der materiellen Fassade?
Es wäre sicher falsch, wollte man in den Forderungen
der Arbeiter nichts anderes als den Versuch sehen, sich ein
angenehmeres Leben zu erzwingen; ein Gedankengang, der bei uns
allerdings naheliegt. Es war aber nach acht Jahren kommunistischer
Herrschaft in der Sowjetzone offenbar ein Punkt erreicht, der nicht
nur die physische Leistungskraft der Menschen überforderte, sondern
ebenso die psychische. Immer mehr arbeiten, ohne sichtbaren Erfolg;
ja, zu immer höherer Leistung verpflichten, um dem Versagen der
Führung in wirtschaftlicher Hinsicht wenigstens nach außen hin
einen Scheinerfolg zu geben; dabei den Arbeiter selbst nicht in den
primitivsten Genuß dieser Leistung kommen zu lassen, das kann man
auch in einem totalitären Staat und mit noch so ideologisch
verbrämten schönen Reden vom heutigen Menschen auf die Dauer nicht
fordern.
Hier wurde die natürliche Ordnung verkehrt, daß
alle Arbeit, alle Politik letztlich dem Menschen zu dienen haben und
nicht der Mensch nur dienendes Werkzeug der politischen Idee ist. Das
ist, um es mit einem klaren, wenn auch nicht mehr gebräuchlichen
Wort zu benennen, echte Sklaverei; das ist Unfreiheit.
Das Ringen um Freiheit war zweifellos der Antrieb,
der, bewußt oder unbewußt, hinter den Vorgängen des 17. Juni
stand; der sich in der Geschichte der Menschheit immer wiederholende
Kampf um das Naturrecht der Freiheit.
Was ist aber Freiheit?
Je mehr sie schwindet, um so mehr wird von ihr
gesprochen, und kein politisches System versäumt es, die Freiheit
als wesentliches Ziel in sein Programm aufzunehmen. Die Freiheit
hat also offenbar viele Gesichter und läßt viele Deutungen zu.
Was sie wirklich bedeutet, verspürt man erst, wenn
man sie nicht mehr besitzt. Sie ist also etwas, das man verlieren
kann, und auch etwas, das man erst erfahren haben muß, um den Wert
voll zu ermessen. Daß die Freiheit ein hohes Gut, ja, eigentlich
eine Voraussetzung echten Menschseins ist, läßt
sich aus unzählbaren Zeugnissen der Völkergeschichte aller
Jahrhunderte entnehmen; keine Philosophie, die sich nicht mit dem
Begriff der Freiheit beschäftigt hätte.
Wir wollen versuchen, uns vom Wesen der Freiheit,
wenigstens andeutungsweise, ein Bild zu machen; sehen, welche
Bedeutung sie für uns besitzt und welcher Weg zur Erhaltung der
Freiheit führt.
Es liegt nahe, Freiheit im Sinne von
»Nicht-gefangen-Sein« zu verstehen, aber schon das vielleicht etwas
pathetische Wort Schillers: »Der Mensch ist frei geschaffen, ist
frei, und würd er in Ketten geboren« zeigt uns, daß es einen
wesentlich anderen Begriff von Freiheit gibt; Freiheit, die nicht
durch Gefangenschaft und äußere Versklavung beeinträchtigt werden
kann, die also nicht unseren Körper, sondern unseren Geist und
Willen betrifft. Das ist die Freiheit unserer Entscheidung zu allen
Dingen des Daseins; Freiheit auch im Entscheid über die eigenen
Wünsche und Taten, eine Freiheit, die letztlich in dem uns vom
Schöpfer verliehenen freien Willen ihren Ursprung hat.
Mehr als die Freiheit des Körpers ist diese ständig
und auf viel verstecktere Weise bedroht. Immer sind wir der Probe auf
diese Freiheit ausgesetzt, und nur da erlangen und bewahren wir sie
uns, wo wir persönliche Verantwortung und Entscheidung auf uns
nehmen. In diesem Sinne gibt es vielleicht nur wenige wirklich Freie.
Denn ist es nicht so, daß wir der persönlichen Entscheidung gern
ausweichen und uns auf diesen und jenen berufen; auf dieses anonyme
»man« hat es gesagt oder »man« hat es angeordnet, und dann hat
man also gehandelt? Haben wir es nicht immer wieder gehört, daß man
nur einem Befehl gehorcht habe, wenn diese unmenschlichen Greuel
verübt worden sind? Hat man dort Freiheit auch nur gekannt,
geschweige denn genutzt?
Aber nicht nur in diesem Grenzbereich unserer
Freiheit, der wirklich von manchem gar nicht wahrgenommen wird, sind
wir bedroht oder gar schon gefangen, wir spüren es ebensowenig mehr,
wie uns das heutige Leben auch in alltäglichen Dingen immer mehr
Freiheit entzieht. Zwar wird uns Freiheit vorgetäuscht, aber
unterliegen wir nicht täglich dem Einfluß vieler Dinge, die man
ganz bewußt auf uns anlegt? Wie unkritisch stehen wir meist den
Ergüssen von Presse, Film, Radio usw. gegenüber. Die wahre
Sintflut der Reklame ist geradezu ein Beweis dafür, wie leicht die
Entschlüsse des heutigen Menschen beeinflußbar sind. Wo ist da noch
echte Freiheit?
Erleben wir es nicht bei uns selbst, wie sehr wir
trotz besserer Erkenntnis diesem Trommelfeuer erliegen? - Und wie
viele Menschen sind heute nicht Sklaven des Zeitgeistes auf der
ewigen Jagd nach dem materiellen Erfolg, nach allen möglichen
Dingen, die der moderne Mensch »unbedingt« haben muß, weil man
doch nicht rückständig sein darf!
Nun, die meisten von euch sind von dieser
Entscheidung zum Leben noch ein Stück entfernt, aber die
Entscheidung zur Freiheit in vielen anderen Dingen hat schon jetzt
jeder von euch zu treffen. In erster Linie sind es natürlich Dinge,
die euer persönliches Leben betreffen, das sich hier langsam formt
und weitgehend seine Prägung erfährt. Formende Elemente sind aber
nicht nur Heim und Schule, Erzieher und Mitschüler, sondern in
höchstem Maße seid ihr sie. Einen wesentlichen, ja, den
wesentlichen Teil der Erziehung habt ihr selbst zu leisten in der
kritischen Betrachtung eurer Naturanlagen und in der bewußten
Förderung oder Bekämpfung. Das ist nicht bequem; es erfordert viel
Kraft, täglich gegen seine Trägheit, seine Eitelkeit, gegen seine
Feigheit oder Gleichgültigkeit anzugehen. Aber nur dann gewinnen wir
doch wirkliche Freiheit, wenn wir uns selbst überwinden in unseren
Schwächen und Fehlern. Sicher hat mancher schon gedacht: wenn ich
erst mal aus dem »Kasten« heraus bin, dann beginnt für mich die
Freiheit. Das ist ein Trugschluß. Als ob das Erfüllen von
Pflichten, das Einordnen in die Gemeinschaft Unfreiheit bedeutete!
Wenn ihr einen Teil der Freiheit, die ihr hier
besitzt, ins spätere Leben hinüberretten könnt, seid ihr zu
beglückwünschen. Davon scheinen noch nicht alle ganz überzeugt
zu sein. Vielleicht ist mancher der Meinung, es gäbe in der heutigen
Jugend einen Typus, der Freiheit geradezu demonstriere; in der Art
der Kleidung, wie in der ganzen Form des Gebarens zeige sich
Unabhängigkeit von überlieferten Formen, von Zwang und
Unterordnung. Auch ohne den bekannten Namen für diesen Typ zu
nennen, wißt ihr, wen ich meine, und ich darf wohl wahrheitsgemäß
und erfreut feststellen, daß es diesen Typ bei uns, wenigstens in
Reinkultur, nicht gibt und daß er sich bei euch nicht lange halten
würde. Dennoch bewundert vielleicht der eine oder andere diese Form.
Sie entspringt aber allem anderen als einer freien Wahl, sie
unterliegt vollkommen einer Modeströmung, die hier freilich auf
angenehme Weise, und darum unbemerkt, ihren Willen diktiert. Also
eine Unfreiheit, nicht anders als im Osten, dessen Jugend uniformiert
mit Gewehr daherkommt! Die empfindet das Unnatürliche, Gewaltsame
solcher Haltung auch nicht mehr, weil dort das Gefühl für die
Freiheit der persönlichen Entscheidung systematisch unterdrückt, ja
geradezu als schädlich für die Gemeinschaft hingestellt wird.
Wir haben es erfahren, wie schnell das Wissen um
persönliche Freiheit ausgelöscht werden kann. Nicht nur bewußt als
Mittel im politischen Kampf, sondern im gleichen Maße auch unbewußt,
und darum noch gefährlicher, in einer Zeit der Vermassung und des
Kollektivismus. Nicht nur im Osten ist die Freiheit bedroht,
die Mittel sind dort vielfach so, daß man die Bedrohung noch in
breiten Schichten der Bevölkerung erkennt, gefährdet
ist ebenso der Mensch hier im Westen, der sich bequem im Strom der
Masse treiben läßt.
Es bedarf schon großer Anstrengungen, seine
Persönlichkeit in der Menge, in der wir Menschen des 20.
Jahrhunderts zu leben gezwungen sind, zu bewahren. Viele von euch
werden es erfahren haben, wie schwer es ist, sich innerhalb der
Klasse gemäß seiner Veranlagung zu behaupten, ohne dabei die
Gemeinschaft zu verletzen. Umgekehrt hat jeder erfahren, wie ein
einzelner der Klasse seine Anschauungen aufdrängen kann. Mit
dem hohen Recht auf Persönlichkeit ist also zugleich auch eine hohe
Verpflichtung zu verantwortlichem Handeln auferlegt; Freiheit kann
zum Guten wie zum Bösen gebraucht oder mißbraucht werden. Echte
Freiheit verlangt somit Selbstdisziplin; sie ist das Gegenteil von
Willkür. Und nur dort, wo Disziplin gehalten wird, kann die
Freiheit aller gedeihen und Freiheit gewährt werden.
Die Entscheidungsfreiheit zu Gut oder Böse geschieht
letztlich vor dem Gewissen und damit vor Gott. Als Christ erfährt
man diese äußerste Möglichkeit der Freiheit am tiefsten und
verantwortlichsten. Diesem Ruf des Gewissens, der Verantwortung vor
Gott immer wieder zu folgen, ist Voraussetzung für eine volle
Verwirklichung der Freiheit des Menschen.
Wir, die wir die Zeit des Nationalsozialismus noch
aus eigener Anschauung kennen, wissen, wie schwer es ist, gegen die
Macht eines totalitären Staates seine Freiheit zu retten. Wie
wenigen Menschen war damals die Kraft gegeben, gegen die Verbrechen
aufzustehen und damit die Freiheit zu bewahren. Im materiellen
Wohlleben der Zeit empfanden die meisten die Unfreiheit gar nicht,
aber die wenigen anderen haben darunter unsagbar gelitten, ja oft
genug den Kampf um die Freiheit mit dem Tode bezahlt. Vielleicht kann
man fragen, ob sich dann der Kampf noch lohne, wenn man dabei das
Leben verliert? Aber setzen wir unser Leben nicht oft für ganz
andere Dinge ein, und würden wir mit der Freiheit nicht gradezu
einen ganz wesentlichen Teil unseres Menschseins aufgeben? Das,
wodurch wir u.a. als Menschen bevorzugt vor allen anderen Geschöpfen
von Gott ausgezeichnet sind? Dürfen wir darauf einfach
verzichten?
Es gibt genug Menschen, die diese letzten Fragen
durchlitten und die Zeugnis darüber abgelegt haben. Ich möchte
eines davon zitieren. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer,
der noch im April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg umgebracht
worden ist, hat kurz vor seinem Tode folgende Zeilen unter dem Titel
»Stationen auf dem Wege zur Freiheit« niedergeschrieben:
Wunderbare Verwandlung. Die starken, tätigen Hände
sind dir gebunden. Ohnmächtig, einsam siehst du das
Ende
deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte
still und getrost in stärkere Hand und gibst dich
zufrieden.
Nur einen Augenblick berührst du selig die Freiheit.
Dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich
vollende.
Solche Worte sind angesichts des Todes kein billiger
Trost, sondern letzte Erkenntnis.
Zum 17, Juni 1953 sollte ich sprechen. Ich habe mich
von den Dingen scheinbar weit entfernt; aber doch wohl nur scheinbar.
Das Aufbegehren der Menschen damals richtete sich
gegen Sklaverei und Fron, die das Ende einer Kette von Unfreiheit
sind.
Dieses Ende ist nur zu vermeiden, wenn der Unfreiheit
in ihren ersten Regungen entgegengetreten wird. Erkennen wir sie
nicht, handeln wir nicht, wird uns das Schicksal der Menschen im
Osten nicht erspart bleiben.
Wir haben wenigstens noch die Freiheit, uns zu
bewegen und zu sagen, wo und was wir immer wollen und für richtig
halten. Machen wir auch den rechten Gebrauch hiervon? Sind wir nicht
meistens zu bequem zum Nachdenken und Durchdenken der Dinge, die an
uns herangetragen werden? Übernehmen wir nicht gern die irgendwo
vorgetragene Meinung? Entscheiden wir gemäß unserer eigenen
Erkenntnis und vertreten diese eigene Anschauung dann auch?
Haben wir nicht die Verpflichtung, in dieser uns
geschenkten Freiheit Erkenntnis und Besitz echter Freiheit zu
bewahren, damit ihr Licht nicht erlösche und denen leuchte, die im
Schatten der Unfreiheit leben müssen, in der Hoffnung, daß ihnen
eines Tages die wiedergewonnene Freiheit Glück und Frieden gewährt?
Der 17. Juni, Tag der deutschen Einheit!
Äußerlich können wir sie vielleicht noch lange
nicht vollziehen, innerlich aber können und müssen wir uns den
Menschen verbinden, die jenseits des Eisernen Vorhangs leben, und
darüber hinaus mit allen Menschen in Unfreiheit, wo immer es auch
sei.
Leider bedarf es wohl eines besonders angeordneten
Gedenktages, um uns an diese eigentlich selbstverständliche
Menschenpflicht zu erinnern. Sehen wir den 17. Juni in diesem Sinne."
(Aus: Gaesdoncker Blätter. Juli 1960. S. 29-32; gekürzt abgedruckt ist der Text mit dem Kürzel "Br." - also Brüx selber)
Ich fühlte mich ernstgenommen, in der be-dürftigen Brust meines schmalen politischen Gewissen eines Obertertianers. Ich hatte, anders kann ich mir die Erinnerung nicht erklären, bei dieser Rede den Wahrnehmungseindruck von Realität, von aktueller Nähe, von verantwortlich engagierter Politik. (Die – relativische Verschränkung - einzubeziehen sei in einen geschützten Lebensbereich einer isolierten Internats-Schulaufsicht...) Aber nichts erfuhr ich über die Zusammenhänge, über konkurrierende, ideologische Propaganda, über humanistische Literatur oder Nachrichtentexte zu diesem Anlaß, diesem höllisch-irdischen Ost-West-Gegensatz; der zu dem großen psychischen Gegensatz - Ahnung seines Selbst, seiner Identität im Widerspruch zur Deformation institutionell, der institutionalisierten - trat; Konformitätszwang und Wahrhaftigkeit; systemischer Alltag und ehrenvolle Ausnahme des Eigenen.
Und in den Tagen darauf ...? Kein Lehrer kam in unsere Klasse mit dem Text der Rede, keiner erwähnte sie. War sie genehmigt gewesen? War sie kritisiert worden? Zurechtgewiesen? War sie blieb nutzloses Feiertagsbeiwerk? Deplaziert in der Ordnung Amt? Invidia gloriae comes? Und dann - der evangelische Theologe Bonhoeffer muss sowieso der falsche Typ gewesen, da er einen defaitistischen Gott anrief, de dichten konnte, der politisch sich opferte... Nein, kein dringliche Verzahnung von Ideal der Rede mit der Erarbeitung ihrer Elemente und Begriffe. Für den Unterricht galt das Gebot - und es hätte aus dem Dekalog stammen können: Es standen immer nur wieder dieselben Vokabeln, Formeln, Texte wie zu Kaisers Zeiten als Aufgaben zu Gebote, die keinen Wirklichkeitsbezug zu uns begierigen Nachkriegskindern hatte; die wichtigsten Autoren und Texte der Exilzeit (1933 - 45) und der Nachkriegsliteratur blieben uns versagt, es wurde abgehampelt der olle Bildungskram in den lehren Köpfen und Deutschbüchern, bei dem man das Nationalsozialistische als offensichtliche Lücke weggeschnitten hatte aus den Lesebüchern und Köpfen... - ja, das sollte Klimax unserer Bildung sein: die nicht vorbereiteten Interpretation zu einer Hölderlins Ode ("Der Neckar") oder einem stramm-dumm-konservativen Blatt mit unvorbereiteten Thesen eines religiös verquasten Dilthey-Aufsatzes. (Abitur-Aufgaben Reifeprüfung 1965, nachzulesen in „Gaesdoncker Blätter 1965“; hier als Abschreckung nochmals zu lesen):
Reifeprüfung 1965
Unsere 13 Oberprimaner (Klassenleiter: Studienrat Dr. Hermann Volmer) unterzogen sich der schriftlichen Reifeprüfung in der Zeit vom 14.-19. 12. 1964, der mündlichen am 1. und 2. Februar 1965. Den Vorsitz führte Oberschulrat Josef Hasbach vom Schulkollegium in Düsseldorf. Alle Prüflinge bestanden.
Die Aufgaben für die schriftliche Prüfung lauteten in Deutsch:
1. Soll in der Bundesrepublik die Todesstrafe wieder eingeführt werden? - Besinnungsaufsatz -
2. Friedrich Hölderlin: Der Neckar - Gedichtinterpretation -
3. Was bedeutet die Schülerszene im ersten Teil von Goethes "Faust" im Rahmen des Gesamtwerkes?
4. Wilhelm Dilthey: Dichtung und Leben. Geben Sie den Gedankengang wieder, und erläutern Sie die Ausführungen Diltheys mit Beispielen!
* ~ *
Zur Person Walther Brüx' (nach der von Herrn Laurenz van der Linde liebevoll geführten Matrikel):
Er war Zeichenlehrer auf der Gaesdonck 1951 - 1953; kehrte als Studienrat (für Kunst und Erdkunde) wieder in die Mauern des Kastens auf der Kendelinsel zurück, bis 1969 und ging als Gymnasiallehrer nach Kleve, seine Heimat.
In der Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Walther_Br%C3%BCx
Ach, natürlich, ja, daran wollte ich auch erinnern: an eine wunderschöne Beuys-Skulptur, die im Jahre 1949 geschaffen wurde - eben: von Beuys, als dem Objekt, ja; aber von Walther Brüx geschaffen, der damals den jungen, verkannten, depressiven Beuys in seine Familie aufgenommen hatte. Und Brüx schuf die einzige, wichtige, schöne, prägnante Beuys-Skulptur, die je das Licht unserer Welt erblickte ... (ein Memento - auch eine Bildungsprüfungsfrage für die Unterscheidung von Genitivus subjektivus oder objektivus - als Beitrag zur dummen Spaß- und Quizkultur unserer TV-Tage; und erst recht diese Frage: Warum unterschieden die Lateiner nicht, was sie doch ausdrücken wollten, die Varietät des Genitivs; und erst recht die zehn möglichen Variationen des ablativus absolutus; wenn ihnen doch die Differenzierung am Herzen lag? Wollten sie ihre Intentionen immer so gerne offen lassen, d.h. dem Hörer als Aufgabenstellung der Interpretation? Eine Frage, die mir in keiner der öd beschränkten, uninspirierten Latein- oder Griechischstunden auf der Gaesdonck beantwortet wurde; uns blieb nur, die im Kommentar des Lehrers vorgegebene Grammatikerklärung nachzukäuen...)
Eine Sprache, die sich kein Lehrer auszudenken weiß.
(Die Beuys-Porträt-Büste ist zu besichtigen im Klever „MuseumKurhaus“; sie ist von der Stiftung Museum im Schloß Moyland ausgestellt. Ein Exemplar der Sammlung van der Grinten: Walther Brüx (1917 - 2016): Porträtkopf Joseph Beuys, 1946, Bronze, H 33 cm.
*
Und sonstige Erinnerungen? Oh, ja:
Zum ersten Abituriententreff, nach 15 Jahren von einem
Außenseiter organisiert:
Imagniertes Bild der Woche
Kampf des Bösen gegen das Gute...
Seine Hände waren ein eigenes Studium, ein eigenes
Porträt wert...
Und seine Sorge um den Brennofen im Keller des
Primanerbaus, in dem unsere Keramiken gebrannt wurden. (Ein schmuck-
und randloser Teller von mir, aus der Cendula-vanitas-simplex-Epoche,
hat sich erhalten...)... Und seine - d.h. des Magistri artis Brüx -
Hinweise und Fragen auf Kultur und Kunst – seine Art der
Besprechungen und Bestellungen von kleinformartigen Kunstdrucken –
ein erster - lebenslanger Schatz...
*
Und meine Ver- oder Ge-Danken?
Mein eigenes Bild - ein Bild der Woche (in Gasedonck, im Kreuzgang, ausgestellt, vom Lehrer B r ü x:
Meine Gestaltung (auf Zeichenkarton):
Zwei Hände, schwarze, negroide, wahrlich flehende Hände erstrecken sich aus einem TV-Bildschirm [in DIN A3], w e i t in die Ebene des betrachtenden Zuschauers hinein, weg vom Bildschirm in den Raum, in die Realität - wie ich meinte - hinein. - Wo mein Bild, in Farbe: braune Hände, im schwarzen Bildschirm, verblieb - ich weiß es nicht; irgendwo auf der Gaesdonck. Herr van der Linde wusste keinen BeScheid zu geben ...
- Ein Mitschüler erkundigte sich (auf einem ABI-Treffen nach 15 Jahren) nach meinem Bild: scheu, despektierlich fragend zum Bild, das Walther Brüx für mich ausgemalt hätte. - Sancta simplicitas memoriae!- Nein ein Zeichner war ich niemals; aber ein Schreiber, der sich auf Worte, Metaphern, Bilder und BildWenDungen, auch abstruse, verstehen lernte. - „Was die Erfahrung des Bergsteigens zu einer Metapher des Lebens überhaupt werden lässt und sogar noch zum Sinnbild für die Suche nach dem ewigen Seelenheil, ist die Verbindung der kulturell positiv besetzten Vorstellung der Höhe mit der Abforderung einer körperlichen Leistung.“ (Christof Hamann u.a.: Kilimandscharo). - Nein - Bergsteigen, im Sinne des Dr. R.B., habe nie gelernt (alles, das nach Randa durfte, äh, das lief ab, ohne das man es merkte); mir reichte das Baumbesteigungen, ob Kastanie, Buche, Linde, auch die geschwinden Pappeln, ob auf Pannofen/Vossheide bei Goch. - wo ich einmal nicht weiter wusste beim Absteigen; erst nach stundenlangen Sehen/Suchen/VerWeilen fand wieder zum ErdBoden zurück. - Es war ein Nussbaum in Vornick, den meine Mutter zum AbHolzen/VerBringen zum Sägewerk nach Weeze bestimmt hatte; meinen Segen hatte sie diesmal nicht. Der Nussbaum hatte mir weit die Äste ausgestreckt: Spring ...! Dann lässt deine Mutter mich stehn! Op Jan of Köb hngt minne NootenTakk övere dä Döör. - Hej, spreng van dä läste Takk. Et gäv Schuure, dij Kuje sprenge in dä Wej! - Spreng met, dänn drömt gej net mähr van schwaate Handdüük voar dä Fenste in Büük of Wöört.
- Ein Mitschüler erkundigte sich (auf einem ABI-Treffen nach 15 Jahren) nach meinem Bild: scheu, despektierlich fragend zum Bild, das Walther Brüx für mich ausgemalt hätte. - Sancta simplicitas memoriae!- Nein ein Zeichner war ich niemals; aber ein Schreiber, der sich auf Worte, Metaphern, Bilder und BildWenDungen, auch abstruse, verstehen lernte. - „Was die Erfahrung des Bergsteigens zu einer Metapher des Lebens überhaupt werden lässt und sogar noch zum Sinnbild für die Suche nach dem ewigen Seelenheil, ist die Verbindung der kulturell positiv besetzten Vorstellung der Höhe mit der Abforderung einer körperlichen Leistung.“ (Christof Hamann u.a.: Kilimandscharo). - Nein - Bergsteigen, im Sinne des Dr. R.B., habe nie gelernt (alles, das nach Randa durfte, äh, das lief ab, ohne das man es merkte); mir reichte das Baumbesteigungen, ob Kastanie, Buche, Linde, auch die geschwinden Pappeln, ob auf Pannofen/Vossheide bei Goch. - wo ich einmal nicht weiter wusste beim Absteigen; erst nach stundenlangen Sehen/Suchen/VerWeilen fand wieder zum ErdBoden zurück. - Es war ein Nussbaum in Vornick, den meine Mutter zum AbHolzen/VerBringen zum Sägewerk nach Weeze bestimmt hatte; meinen Segen hatte sie diesmal nicht. Der Nussbaum hatte mir weit die Äste ausgestreckt: Spring ...! Dann lässt deine Mutter mich stehn! Op Jan of Köb hngt minne NootenTakk övere dä Döör. - Hej, spreng van dä läste Takk. Et gäv Schuure, dij Kuje sprenge in dä Wej! - Spreng met, dänn drömt gej net mähr van schwaate Handdüük voar dä Fenste in Büük of Wöört.
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