Sonntag, 13. Oktober 2013

Von der eugelieferten Patientin


Von der eingelieferten Patientin

"Evangelizare pauperibus"

Im Zug nach E.
(3. Juni 1998)

"When shall we three meet again?"
Fontane: Die Brücke am Tay

Sie stiegen in M. oder in D. oder in H. ein und fuhren durch eine strahlende, mildgrüne Sommerglanzlandschaft über B. gen Norden. Auf den Bahnhöfen glückliche Gesichter: dort bereitet sich jemand darauf vor, in Kur zu fahren; dort bricht jemand nach H. zu einem Termin auf; dort wartet eine Lehrergruppe, die einen Zweitagesausflug nach H. unternimmt; dort ein junge Mutter mit einem Sulky auf dem Weg zur Oma; dort ein Jungmanager, der seine Aufzeichnungen im Zug korrigieren will.
Außerhalb der Städte blühten die Kornfelder, glühten Mohnflecken, arbeiteten Menschen auf den Feldern und versteckten sich Sperber und Rebhuhn ob der Mittagshitze. Im Weizen hatte Vincent seine Staffelei festgekloppt und arbeitete verbissen seinem Farbenrausch entgegen. Kinder winkten von Brücken dem IC entgegen.
Britta und Hilde saßen im zweiten Wagen, begaben sich 10,05 Uhr in den Speisewagen, tranken eine Täßchen Kaffee und waren auf dem Weg zurück in ihr Abteil, als der Zug erzitterte, schlenkerte, stählern kreischte und heftig ruckte und aufplatzte.
Ihre Körper wurden geknickt, zerrissen und ihre Seelen fortgetragen in eine ewige Unruhe.
Seine Tochter hatte ihm ein Briefchen, mit zwölf Herzchen geschrieben: "Für alle 3 Wochen Urlaup wünesch ich dir glüg!" Es steckte als Lesezeichen in einem Taschenbuch in seiner Aktenmappe, die er von seinem vorjährigen Osteraufenthalt (ach, Irmi!) in Athen mitgebracht hatte. Er wehrte sich gegen den Impuls, die dunkelbraune Tasche mit den außen aufgenähten Taschen zu streicheln.
Nordwärts der Brückenbau.

"Wie weit bist du mit deinem Textentwurf?"
"Hier, hör mal: Die große Liegende hat die sehr zentralistische Komposition des Ruhrfestspielhauses durch die eigene, dynamisch-azentrische und vexierhaft-animalische Position neutralisiert. Und die Kunst ist mit der Natur versöhnt!"
"Und du glaubst, dass das nicht als Ironie durchschaut wird?"
"Einigen soll es ja eine zweifache, eben zwiespältige Information mitliefern. Die anderen Kunstsemmler von den Parteien und die Zeitungsfritzchen sollen sich gebauchpinselt fühlen."
Wie weit sind Ihre Begriffsforschungen zum Thema Halbheiten gediehen?"
"Oh bis zum nächsten Symposion in der Sternwarte habe ich den Aufsatz fertig." Er zieht ein Skript aus der Tasche. "Aber ich erwarte gar nicht, dass Sie kommen. Unschärferelation und Relativitätstheorie - wann kommen Sie schon mal in Berührung damit!"
"Lesen Sie doch ruhig mal. Soweit ich's versteh".
"Hier, ich hab auch in der Philologie gewildert. Hier, von wem kann das sein?
'Es ist das missliche Vorrecht des halbgebildeten, über die Einzelheiten das Ganze zu übersehen.'"
Er schaut Frau G. ein wenig zu lange in die Augen.
Oder: "'Die Halbheit hat noch nie die Welt erobert.' Das ist Fon-"
Da kracht und crasht und tobt die Technik.

"Du, Erich, hör mal: Kennste den schon?
In der Gewerkschaftszeitung Neue deutsche Schule stand folgende Annonce: 'Sind auch Sie Ihren Lehrerjob leid? Haben Sie Lust, schnell reich zu werden? Dann überweisen Sie zehn Mark für weitere Informationen. Konto sowieso..' Kollege Kreiss sieht da und überweist den Betrag. Nach einigen Tagen erhält er eine Antwort: 'Sie wollen reich werden? Hier unser Tipp: Geben Sie ein Inserat auf mit folgendem Wortlaut: 'Haben Sie den Wunsch, reich zu werden...?'"

Heribert Sch. blättert in der Korthusener Zeitung: Er findet, was er seiner Kollegin vorlesen möchte:
Du, wieder ein Gedicht von Vater Sattler. Hör mal:

Seehund zum Robbenjäger

"Ich bin ein armer Hund.
Ich habe keine Brieftasche. Im Gegenteil:
Man macht aus mir welche; sehr wohlfeil.
Und Wohlfeil ist Schund.

Taten wir jemals Menschen beißen?!
Im Gegenteil: Jedes menschliche Kind
Wird uns, wenn wir auf dem Lande sind,
Mit Steinen totschmeißen.

Wie ihr Indianer und Neger
Nicht glücklich für sich leben ließt,
Stellt ihr uns nach und schießt
Uns nieder. Für Bettvorleger!

Wo ihr Menschen Freischönes erschaut,
Öffnet ihr, staunend, euren Rachen.
Warum erstrebt ihr es nicht, euch vertraut
mit den Tieren zu machen?

Wilde Tiere sahen allem, was neu
Und friedlich war, anfangs unsicher zu.
Wer nahm den wilden Tieren die Ruh?
Wer gab ihnen zur Angst die Wut?

Der Mensch verkaufte Instinkt und Scheu.
Das Tier ist ehrlich und deshalb gut."

(Aus: Flugzeuggedanken. 1929 erschienen.)

"Du, das ist der Kollege P. Das Haus ist noch nicht ganz fertig. Da muss er schon Nachhilfe reißen, noch mehr als vorher. Hier, das ist sein Stil: 'Gymnasiallehrer erteilt Nachhilfe, Lernberatung und Intelligenz- und Motivationstraining, auch für Klausur- und Abi-Vorbereitung (Deutsch, Gesellschaftswissenschaften). Tel. 02361/36889)
Erschrocken heben sie die Köpfe. Was -

Was puhlst du da?
"Ach, ich hab hier ein paar Bildchen, Briefchen und so.
"Zeig! - Ach, unsere? und , das was ist das da in der krakeligen Kinderschrift?"
"Ein halber Brief von mir, mein erster Wunschzettel. Lies mal! Ich hab' ihn mal später meiner Mutter entrissen aus unserem Album."
'Libes Kristkintchen, ich wüntsche mir eine Fioline und eine Feltflasche, und ich wünsche mir eine Sebel Koppel, und ich wüntsche mir ein halsbant für Bock, und ich wünsche mit eine Leichte Kette für Bock, und ich wünsche mir ein Korpwägelchen für den für das Pony mit 4 Sizzen.
Nun tschüsch, ich will Bleiben
dein Liepling Hans!'

"Hans, hörst du das -

Gertrud St. gönnt sich ein kreatives Stündchen. Sie ruckelt sich in ihrer Ecke fest und arbeitet an zwei Gedichten, die halb fertig sind. Das erste soll
"Instrument" heißen.

wirfst immer ein Auge auf mich
fleißig auf allen Proben
Fische sind die Menschen Sterne
dein Instrument möchte ich sein
neu Klänge probieren
nimm diese Möwe mit zur Reise
ein blasses Gesicht mit hohen Augen
stundenlang immer
im Konzert mich mit dir
dein Instrument möchte ich sein
gewinnen
bis dir der Atem fehlt

dich auf Reisen begleiten
selbst die Meere gleichen einander fast nie
dein Instrument möchte ich sein
im Schemenzug aus unbekannten Leben
an deinen Händen
die Ufer werden sich niemals berühren
dein Instrument möchte ich sein
wiegen
bist du sekundenlang für mich verglüht
mich von dir pflegen lassen
ständig deinen Lippen nahe
und im Alter an Wert

Auch das zweite Gedicht ... verwundert ruhen ihre flatternden Augen auf den Wörtern, die sie geschrieben hat:

Mädchen im zu schnell vorbeifahrenden Autobus
Ein blasses Gesicht mit hohen Augen,
das von den Wurzeln nichts verrät,
im Schemenzug aus unbekannten Leben.

Die Ufer werden sich niemals berühren,
selbst die Meere gleichen einander fast nie,
Fische sind die Menschen, Sterne ...

Durch ein verstaubtes Stückchen Glas
bist Du sekundenlang für mich verglüht.
Nimm diese Möwe mit zur Reise.

Gertrud St. versinkt in Bildern, die sich ihrer Schlafseele warm anlegen.
Da packt sie eine Gigantenfaust, rüttelt sie und zerdrückt sie in der stählernen Außenhaut.

Dr. Steinberg im Wagen 1 wechselte die Beine. Jetzt überschlug das rechte das linke. Nach einer langen, mühsamen Diskussion mit dem neuen Direktor (Schulkonzepte nach dem neuen Modell der "corporate identity", was Mehrarbeit in formalisierten Formulierungszwängen verhieß) hatte er sich in ein Abteil erster Klasse zurückgezogen, sich gemütlich hingesetzt und wartete auf den Zugbegleiter. Apfelwangig schauten zwei Mädchen ins Abteil. Sie hatten die Tür aufgeschoben, und merkten, dass sie sich geirrt hatten. "Oh!" "Na, nicht schlimm", bemerkt Herr St., der gerade in einen Apfel gebissen hat. "Seid ihr mit der Mama unterwegs." "Ja, an die Ostsee. Da wartet der Sommer auf uns. Papi hat ihn dahin bestellt. Und puh, wir beide müssen Mami beim Schleppen der Koffer helfen!" "Oh, das ist ja viel Arbeit. Schaut mal!", und er greift in seinen Leinenbeutel mit Proviant, findet nur noch einen Apfel und bietet ihn den Mädchen an. "Wollt ich euch einen Apfel teilen? Ich hab nur noch einen!" Sie nicken, und die Couragiertere von beiden, die ins Abteil getreten ist, nimmt ihn und bricht ihn durch. "Ich hab durchgebrochen und, hier, Karin, du darfst wählen, welche Hälfte du haben willst." St. lächelt die Mädchen an und erinnert sich an seine Kinderzeit: Einer teilt, der andere wählt. Und morgen bist du dran! "Tschüß, ihr beiden. Vielleicht sehen wir uns in H. auf dem Bahnsteig. Dann helf ich eurer Mami beim Koffertragen." "Tschüß. Tschüß!" Aber sie bleiben noch stehen. "Ach, wie heißt ihr denn?" "Ich heiße Veronika. Und das ist meine Schwester Karin." Sie will noch was Wichtiges mitteilen. "Sie ist autistisch! Aber nicht schlimm." "So? Aber ihr seid doch Zwillinge, oder? Na, da kannst du aber gut für deine Schwester sorgen."
"Sorgen haben wir kei -

Günter Jansen sitzt im Wagen 3. Er beugt sich Dagmar Stifter zu, staunt sie an, fixiert sie und fragt: "Woher kommt dir das bekannt vor: 'Seht zu und bringet Buße! Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.'"
Dagmar kichert: "Etwa von Schiller Vater?"
"Wie das denn?" "Der war Pomologe! Ein erfolgreicher dazu!"
Sie schauen sich lächelnd in die Augen, sie strahlen sich an. Sie haben die letzte Nacht zusammen verbracht. Sie sitzen und schwitzen Hand in Hand wie verliebte Blagen. Und Günter hatte es seiner Frau mitgeteilt, zum ersten Mal, endlich nach dreieinhalb Monate Versteckspiel.
"Willst du's überhaupt wissen? Das ist natürlich Lukas gewesen; ich glaube 3,14. Eigentlich das Evangelium für den dritten Adventssonntag. Aber solange will ich nicht warten. Ich nehme es für den abschließenden Gottesdienst der Projekttage. Hat was gebracht: Tiere, Pflanzen, Bäume und jüdische Lebensformen im AT!"
"Und du, du körperlich vollendetes Kamel, paßt du bei mir durch die Nadelöhr?"
"Hofeinfahrt - wäre die bessere Übersetzung."
"Also passend für deinen Porsche?"

Einer stand am Fenster, hatte eine junge Frau im Arm und schaute in die Fahrtrichtung. "Ich nur so halb dabei heute. Ich hab in der Frühe was geträumt. Das kapiere ich noch nicht so ganz."
"Na, spucks's aus!"
"Also, ich war - da war nur ein fremder Mann in einem Gewölbe, das umgedreht war. Also, eine Kirche sozusagen auf den Rücken gelegt, dass man im Gewölbe als auf dem Fußboden gehen mußte. Aber ich wusste, dass ich das war, der da so vorsichtig über die Kreuzrippen und in den Höhlungen schritt. Dann zwangen mich Unbekannte in Uniformen mit Pistolen in einen großen, langen, weißen Wagen mit roten Steifen einzusteigen. Irgendwann hab ich die Notbremse gezogen. Und mehr weiß ich nicht."
"Ist das nicht -

"Wie spät ist es, Lucia?"
"Halb zwölf! Noch eine und eine halbe Stunde! Dann lassen wir die da durch die Museen laufen. Und wir verschwinden in unser Etablissement "Zum letzten Anker".
"Ob Baas Ruschewey noch residiert?"
"Der Kerl steckt doch in allem drin -

Andreas Krauthoff checkt sich im Halbdämmer ab: 'Mein Problem ist, dass ich im Augenblick kein Problem zu lösen habe. Wem kann ich das mitteilen, ohne dass ich mich in ein ungehöriges Licht stelle? Aber ich könnte ja mal ein Dreieienhalb-Eck erfinden für die Kinder! Mal sehen, wie die in der 5 darauf reagieren. Wahrscheinlich kreativer als die Luschen in der 10!
Zehn nach ist -

Ein Herr J. revanchierte sich für die unbedachte Abfuhr, die ihm der Direktor H. in kommunikativer Laune wegen seines Kuraufenthaltes und einer anschließenden, zweiwöchigen Fehlzeit angedeihen ließ, mit dem Hinweis auf da, was er, der Studienrat z. A., vom Stellvertretenden gehört hatte: "Sie, Herr Homann, haben sich in der letzten Stundenplanverteilung 23 1/2 sachlogische Fehler geleistet; der halbe kann als Flüchtigkeitsfehler gelten, bei freundlicher Betrachtung ein Lapsus computeri. Arbeiten Sie mal an sich und Ihrer Sachkompetenz, statt einen Kollegen, der krank war und wieder bereit ist, im Stundenplan vollauf mitzumischen, abzumeiern. - Jetzt aber Schluss mit dem Nachkarten!"
Dann versenkte er sich in seinen unverwüstlichen T.M. und las von Hannos letzten Schultag: "Dann war es aus, man holte seine Sachen herunter, der Weg durch die Hoftore war freigegeben, man ging nach Hause."
Da fing sein Wagen zu schlingern an. Zu seinen Füßen ist was los. Der Untergrund schien zu poltern. Was ist hier los im Grunde der Erde?

Die Aengeheims saßen im letzten Wagen und besprechen ihre Trennung. Was ist sinnvoller, was ist kostengünstiger, war ist anständiger. Sie hörten ein leichtes Scheppern, ein klirrendes Stoßen. Dann wurde ihr Wagen wie von gewaltiger Geisterhand gegen die anderen gedrückt, wie mit himmlischen Kräften. Die Erde schien zu beben unter und sie mit ihnen in zerstörerischer Gewalt.

Die eugelieferte Patientin wurde zurückverlegt.
Am nächsten Tag musste der Dienst tuende Facharzt zum Direktor.
Auf dem Flur begegneten sie sich.
In drei Sätzen erklärt Dr. Steinberg dem Klinikchef, dass er seiner Frau nach Bad Pyrmont möchte und zum Vierteljahrsende kündige. "Ja. Schriftlich geht das heute Abend an das Kuratorium ab. - Gewiss! Tach auch! Ja. Meine Frau hat schon im Irmhildis-Haus gekündigt." - Das weiß der Direktor schon.

Über der Unglücksstelle Seele stiegen ausufernde Wolken aus Dreck, Staub und Glas- und Blechteilchen auf. Sie verdüsterten den Himmel am Menschenort, wie von Luftgeistern geschürt. Wie ein überirdisches Bahrtuch schwebten sie über dem Ort des Zähneklapperns und Gliederreißens und Herzstillstands und Gehirntods und sanken langsam in minutenlanger Stille zusammen, auf der Suche nach sich selbst und nach Ruhe ob solchen Tempos.
Doch da tönen schon die ersten Sirenen.

"Ach, vergiss ihn nicht. Den Hans-mein-Igel!"

Sie tuten in den Ohren des Fahrers einer Notambulanz, der sich hinter Steuer erhebt und ausschaut. Und seinen Sanitäter fragt: "Wie heißt das doch noch mal: Tand, Tand,
ist das Gebilde von Menschenhand?"



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