Sonntag, 27. Oktober 2013

Ebner-Eschenbachs "gestohlenes Püppchen"

Adwenz? VorweihNACHZ? - Teil 1


... und eine Erinnerung an Püppchen, die zum Christkind gelogen, pardon: „geflogen“ waren?


Ja, das Stichwort: „ge- oder entflohene oder geraubte oder weggeflogene“ Puppen – um es recht zu verstehen: kurz oder lange vor dem Weihnachtsfest - funktioniert noch bei mir. (Nein, ich hatte keine Puppen, weder zur Pflege, noch zur Adoption); aber in der märchenhaften Zeit, als meine Schwestern - 10, 8 und ein Jahr alter als ich – nur, in Worten: nur je e i n e Puppe hatten; da passierte Ähnliches wie in dieser Adventsgeschichte; und ungelogen, ich hatte und habe nie Eifer- oder Missgunst empfunde wg. der Pupppen. Aber die Erinnerung daran berührt mich tief.):

Marie von Ebner-Eschenbach:

D a s W e i h n a c h t s f e s t w a r n a h e

- Aus: "Meine Kinderjahre. Biographische Skizzen" -

Darin eine Passage über den Weihnachtsbrauch der gestohlenen Puppen. (Dass die Puppen der kleinen Mädchen zum Christkind geflogen sind, um dort wieder neu eingekleidet zu werden…; Marie Ebner-Eschenbach erzählt von sich und den Geschwistern aus der Zeit, als sie mit dem Vater und der Kinderfrau Pepinka in Wien lebten:



Ich verweise auf den Artikel über MvEE in zeno.org:

Das Weihnachtsfest war nahe, wir konnten die Tage bis zum 24. Dezember schon an den Fingern abzählen, als sich etwas begab, das uns in die größte Aufregung versetzte. Vor unsern Nasen gleichsam verschwanden unsere Puppen. Auf einmal waren alle fort. Eine vollständige Puppenauswanderung hatte stattgefunden.
Das Bett, in das Fritzi gestern noch ihre älteste Tochter, die große Christine, schlafen gelegt hatte – leer. Die Angehörigen Christinens hinweggefegt, als ob sie nie dagewesen wären. Meine blonde Fanchette, die freilich von der Blondheit nur noch den Ruf besaß – denn eine geduldige Friseurin war ich nicht –, ebenfalls unauffindbar. Wir kramten vergeblich nach ihr in unsern Laden, durchforschten alle Schränke und Winkel. Wir liefen ins Kinderzimmer und klagten die armen kleinen Brüder des Raubes unserer Puppen an. Daß wir auch im vorigen Jahre kurze Zeit vor Weihnachten denselben Jammer erlebt und dann unter dem Christbaum ebenso viele Puppen, als wir vermißt hatten, mit glänzend lackierten Gesichtern, reichem Gelock und schön gekleidet sitzen sahen, fiel uns nicht ein. Oh, wir waren dumme Kinder! Ich glaube nicht, daß es heutzutage noch so dumme Kinder gibt.
Pepinka, ärgerlich über die Nachgrabungen, die wir nun auch in dem von ihr beherrschten Reiche zu unternehmen begannen, ließ sich zu einem unvorsichtigen Worte hinreißen. »Geht, geht! sucht eure Puppen dort, wo sie sind.«
»Weißt du, wo sie sind? ... Ja, ja, du weißt es! Wo sind sie?« Wir ließen nicht nach, gaben ihr keine Ruhe, bis sie endlich, um uns loszuwerden, sagte: »Die kleine Greislerin hat sie gestohlen. Grad ist sie mit der Christine über die Gasse gelaufen.«

Gestohlen also! unsere Kinder gestohlen! durch die kleine Greislerin*) – oh, das leuchtete uns ein. Der konnte man alles Schlechte zutrauen. Ihre Mutter hatte einen Laden, gerade unter einem der Fenster des Kinderzimmers. Wir kauften dort die Glas- und Steinkugeln, mit denen wir eine Art Kriegsspiel spielten. Von der Mutter erhielten wir immer fünf Stück für einen Kreuzer, von der Tochter nur drei. Genügte das nicht, um uns ein Licht aufzustecken über das ganze Wesen dieser Person? Sie, natürlich, war die Puppenentführerin, sie lief herum mit der Christine, an ihr mußte Rache genommen werden. Es mußte! Ich war Feuer und Flamme dafür, und es gelang mir, meine Schwester davon zu überzeugen. Auch die sanfteste Mutter kann grausam werden, wenn es Kindesraub zu bestrafen gilt. Am liebsten würden wir die Missetäterin durchgeprügelt haben – woher aber die Gelegenheit dazu nehmen? Sie bei der Frau Greislerin verklagen? Ach, die tut ihr nichts, die fürchtet sich selbst vor ihr. Was also soll geschehen? Was für ein Gesicht soll unsere Rache haben? Ein schwarzes! machten wir endlich aus. Es war beschlossen, was der Diebin geschehen soll: Wir werden ihr Tinte auf den Kopf gießen.
Pepi (also:Pepinka) war ins Nebenzimmer zu den Kleinen gegangen und hatte die Tür geschlossen; wir glaubten unser nichtsnutziges Vorhaben ungestört ausführen zu können. Ich holte eilends das Fläschchen herbei, das unsern Tintenvorrat enthielt; wir schoben in das Fenster, unter dem der Greislerladen sich befand, einen Schemel und bestiegen ihn. Fritzi öffnete den inneren Fensterflügel und mit Mühe nur ein wenig den äußeren, und ich steckte den mit der Tintenflasche bewaffneten Arm durch den Spalt. Jetzt – hinunter mit dem Guß! Hinunter auf die Greislerin, die natürlich nichts Besseres zu tun hat, als dazustehen und ihm ihr schuldiges Haupt darzubieten.

Die spanische Armada war einst nicht siegesgewisser ausgezogen als wir zu unserer Unternehmung – und ihr Schicksal teilten wir. Die Elemente erhoben sich wider uns. Es stürmte an dem Tage im Rotgäßchen wie anno 1588 auf dem Atlantischen Ozean, und noch dazu gab's ein Gestöber von weichem Schnee. Ein Windstoß entriß meiner Schwester den Fensterflügel und schlug ihn gleich darauf so schnell wieder zu, daß ich kaum Zeit hatte, meinen ausgestreckten Arm zurückzuziehen und das Tintenfläschchen vor dem Sturze zu retten. Sein Inhalt übersprühte die Glasscheibe, tropfte, mit Schnee und Regen vermischt, vom Fenstersimse herab, umhüllte meine Finger mit der Farbe der Trauer.
Laut und lebendig gestaltete sich der Schluß des ganzen Abenteuers. Pepinka mußte etwas von unserm Treiben vernommen haben, denn plötzlich stürzte sie herbei. Ihr Antlitz glich dem rot aufgehenden Monde, ihre Haubenbänder flogen – ich weiß noch recht gut, daß sie eidottergelb waren.

»Ihr Verdunnerten!« rief sie. »Jesus, Maria und Josef! Fenster aufreißen, mitten im Winter! Was fällt euch ein, ihr, ihr ...« Der Rest sei Schweigen. Mögen die Ehrentitel, mit denen sie uns ausstattete, der Vergessenheit anheimfallen. Sie bildeten eine relativ milde Einleitung zu den in prophetischem Tone ausgesprochenen Worten: »Ihr könnt euch freuen. Gleich wird die Polizei über euch kommen!«
Da war mit einemmal alles erloschen, jeder Funke des Hasses gegen die Greislerin und bis aufs letzte Flämmchen unsere lodernde Racheglut. Nur noch einen heißen Wunsch hatten wir, nur mit einer Bitte bestürmten wir Pepinka: Nur die Polizei nicht hereinlassen! Nur der Polizei nicht erlauben, daß sie komme, uns »einzuführen«!


Die Fortsetzung, bitte sehr hier:
Oder:

http://www.zeno.org/Literatur/M/Ebner-Eschenbach,+Marie+von/Autobiographisches/Meine+Kinderjahre/%5BBiographische+Skizzen%5D

Die Ebner-Eschenbach sollte man sich wg. ihrer schonungsslosen Aphorismen oder ihrer gewichtigen Novellen aus dem sozialen Milieu nicht auf alten Briefmarken anschauen, sondern z.B. auf diesem Porträt:
- Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach geb. Gräfin Dubsksý von Třebomislyc gem. im Alter 43-jährig gemalt von Karl von Blaas (1815 - 1894), einem österreichischen Historien- und Genremaler.

*) In Lexika findet man (immmer noch):
Greisler: Greisler/in: Greisler (eigentlich s. v. w. Grießhändler, Graupner), in Österreich und Bayern Bezeichnung des Kleinhändlers für Haushaltungsbedarf.
„Die kleine Greislerin“ ist hier als das Kind des Greislers (oder der Greislerin), der/die unten im Haus seinen/ihren Laden hatte.

Und zum(r)r Greisler(in) ein niedlich-schönes Foto (aus dem Jahre 2006,mit der Unterzeile: „leider bereits eine vergangenheit, wiens letzter greisler“.)


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