Sonntag, 20. Oktober 2013

Im W a r t e z i m m e r

Stephanie Reyntjes-Drissen:


Vor der Tür zur Behandlung


"Frau Dr. Mai, kommen Sie bitte durch."
Dort, vor den zwei Türen, die zu den Behandlungszimmern führten, saß sie wieder neben der Frau, die ihr schon im Wartezimmer aufgefallen war. Auch jetzt fummelte sie so nervös am Ohr herum. Von der Seite aus beobachtete Frau Werner die ältere Dame. Sie ist elegant gekleidet, fast modisch. Sie trägt ein schwarzes Kleid, beinahe ein kleines Schwarzes, so schick wirkt es; vielleicht ein wenig zu kostbar für diese Umgebung hier im Wartezimmer, mit einem weißen, großen Kragen, der sich glatt um den gefältelten Hals legt. Und groß schaut der raus.
Wieder prockelte sie im rechten Ohr, neigte den Kopf, schüttelte ihn hin und her. Dann nahm sie eine Illustrierte, schlug sie auf und versuchte zu lesen. Doch nach wenigen Sekunden ging das Spielchen wieder los. Sie ließ die Lektüre wieder fallen, fuhr mit dem Zeigefinger der rechten Hand in den Gehörgang, rührte darin herum, schüttelte wohl den Kopf.
Hanne Mai wird’s nervös. Wegsetzen kann sie sich nicht. Da wagt sie es, die neben ihr sitzende Dame anzusprechen: "Haben Sie auch so Ohrgeräusche, so einen Tinntus - oder wie heißt das?"
Frizzi Lange: "Ach, ja, da kann man verrückt werden. Das zischt und tutet und pustet und sirrt da im Kopp herum."
Maichen: "Das ist - mein Gott - das ist wohl eine arge Plage im Kopf. Ich will sie zu den biblischen Plagen rechnen. Luther soll ja auch so ein teuflisches Ohr gehabt haben. Das hat er sich auch nicht ausgerissen. Es half ihm, an den Teufel zu glauben."
Die kurze Lange: "Ach und wie! Das hab ich schon seit acht Jahren. Manchmal kann ich es mit Schmerzmitteln etwas beruhigen. So Aspirin oder mehr. Jetzt habe ich von einer Freundin gehört, dass es ein Mittel gibt, das ist eine Psychotablette. Aber das ist mir egal. Das soll helfen. Was hilft, hat Recht.
Eine Pause, wie lange? Egal!
„Hörn Sie!“ – Sie muss husten.
„Aber gleich muss sich noch über den Weihnachtsmarkt. Ich will da meine gestrickten Handschuhe verkaufen. Das soll mir da einer abnehmen. Ich geb’s ihm auch umsonst.“
„Und wegen Ihrer Tabletten?“
„Ja, da muss ich doch meinen Doktor fragen, warum er mir das noch nicht verschrieben hat."
„Aber! Wie machen Sie das mit dem Weihnachts-“
„Och mit dem Weihnachtsmann? Da gibt es in der dritten Gasse eine Bude, mit einem kleinen Vorraum. So eine Wackeltür.“ (Sie prockelt sich das Wort wie aus dem Ohr. Flupsig.) „Dann kommt man zum Weihnachtsmann. Der hat dort eine kleine Herde von Schafen. Kleine, wollig frohwüchsige Tierchen. Welche Rasse? – Nö, weiß ich nicht.“
Sie macht eine kleine Pause. Sie reibt sich ihre knorpeligen Ohrmuscheln. Zieht am Läppchen. Wackelt mit dem Kopp. Alles klar?
"Schon als Sechzehnjährige, da - nachdem ich die Schule verlassen hatte - sehen Sie da drüben das Gymnasium - da bin ich nach der Mittleren Reife abgegangen - nach meinem ersten Tanzschulball, am Tag danach, habe ich schon ein Brummen im Ohr gehabt. Das ist dann jahrelang weggewesen. Fällt ‚m irgendwann auf, nich?" Sie lacht und greift nach dem Arm der neben ihr Sitzenden. Schüttelt ihn kräftig.
Vom Lautsprecher her ein Krächzen: "Frau Schwuwu, Sie können rein zum Doktor."
"Ach, Mädchen, nehmen Sie mal jemand anders vor. Da - da sitzt so ein Leidender! Ich unterhalte mich grade ein bisschen so schön. - Aber seit ich alleine sitze, so den ganzen Tag, da lärmt es mir im Ohr. Da stehe ich manchmal auf und tanze im Zimmer herum zu lauter Musik. Das wirkt dann für kurze Zeit. Oder ich geh' auf den Balkon. Sehen Sie das, ja? Da draußen. Kennen Sie sich hier aus in der City? Da ist ja das Gymnasium, das Haus mit dem riesigen Dach da im Schnee. Dann ist das da die Alte Kirche. Ja, da, den Helm auf der Spitze können Sie gut sehen.“
„Sie meinen das Kreuz?“
„Ja, dann auch der Martinshelm! Links vor dem kleinen Museum, da wohne ich. Wo da der Schnee auf dem Dach weggeschmolzen ist. Als Mädchen, wissen Sie, da war noch der alte Propst im Pfarrhaus. Der hat lange regiert. Und der herrschte mal so eben, von Kanzel und vom Katheter aus. Der fuhr so gerne auf seinem Fahrrad herum. Ein großer, stolzer Mann! Aus altem westfälischem Geschlecht. Eine Recke von fast 20 Meter!"
- Ach, zwei Meter, ja? Den kennen Sie?
- Sehen Sie, zu dem in den Gottesdienst musste ich immer. Meine Eltern, Sie verstehen?“
„Nein…“
„Ich musste eben. Jeden Tag in die Kirche! Aus mir sollte eine Nonne werden. Da war ich auch immer fromm! Und sonntags zusätzlich nachr Messer in die Christenlehre. (Sie wiederholt sich; immer im Ohr prockelnd!) Und in die Frühmesse am Werktag. Messdiener konnte ich ja leider nicht werden. Hab ich früher immer gedacht. Jeden Sonntag um halb zwölf! Und als junge Frau dann erst. Stillgestanden, ihr schwachen Geister! Und Weihnachten drei Messen! Das war wie nix! Auch wenn wir uns auf Weihnachtsgeschenke freuten. Egal. Dreimal Singsang! Und alles in Wohlgefallen und Weihrauch. – Da ließ sich der Pastor nach der ersten Messe vertreten. Er musste noch in irgendeine Bauernschaft. Zum Festmahl. Rindsbouillon und Braten vom Lamm."
Noch einmal streichelt sie, in aller Ruhe, ihr Ohr.
"Und wie streng der Propst war! Schon knapp ein Jahr nach meiner Heirat, da fragte mich doch der Propst in der Beichte was Privates: 'Ist denn schon was Kleines unterwegs?' Und beim nächsten Mal, da wurde er noch neugieriger: 'Mädchen, bist du noch nicht gesegneten Leibes.'"
Sie war spürbar ruhiger geworden. Ihr Ohr ließ sie jetzt in Ruhe. Sie neigte den Kopf zu der neben ihr Sitzenden.
"Da fragte der mich doch im Beichtstuhl: 'Warum ist denn da noch nichts Kleines unterwegs? Wie macht ihr das denn? Macht dein Mann denn das da auch richtig. Im Ehebett? Das Gott im Paradies schon geadelt hat! Mit Fruchtbarkeit! Oder verhütet der da?’ - Du, und ich wusste doch nie, was Verhütung war. Ich hatte nix und kannte da nix von! Und Hanselmann - der sagte mir auch nix! Da bleiben die Weiber am ehesten handzahm.“
„Und kuschelig!“
„Und frau hat dann die Bauschmerzen!“
„Auch ohne PMS-“
„Wassen dat?“
„Prämenstruelles Syndrom. - So was erfinden die Pillenverschreiber.“
„Komm, wir schleichen uns davon! So gut - kann ich mich nicht mit dem Arzt unterhalten.“
„Ich glaub, wir brauchen diese Ärzte nicht. - Hab ich mir schon oft gedacht! Und dann schlich ich immer wieder zum Onkel Doktor!“
„Und dann gab’s Tabletten vom lieben Doktorchen.“
„Und mein Mann wieder bester Laune. Schaltet den Fernseher. Trank sich dreieinhalb Fläschchen. Und dann, wenn er mich ins Bett locken wollte: ‘Siehste, is ja allet gut!"
"Stimmt ja: bist krank! Gott sei’s geklagt! Nerven! Scheiße. Haben ja alle Frauen. Sie stinken einmal im Monat. - äh, mein Männe!“
„Und dann prockeln und torkeln sie einem wieder in der Scheide rum! Zehneinhalbmal rein und raus. Und das kannst du dich wieder abwischen.“
„Du bist aber drastisch.“
„Gehst dir besser?“
„Jaja, und so weiter!“
„Los! Ab! - Ich schlag vor: Ins Café Diabola.“
„Wo issendat?“
„Bei den Weibern.“
„Den Verrückten am Eck?“
„Odda willze lieba zum Pastoa?“

Sie kuckt scheel.

„Ne, der prockelt auch nur rum in deinem -“ ( - hier da! Siehstet?) Danke! Der würde mich noch - na, Schwamm drüber. Sind ja auch nur arme Wichs-"
"Meinst du - äh - Wichser? Musse dem abba mal sagen. – Sonst weiß der dat nich. – Wie dat so untenrum is. – Könnte der doch auchma drüber predigen. Wie Maria mittem Kind dat gekriecht hat. Datt se kein zweites kriegen konnte."


Auf "mittelalterlich" gemachter
Weihnachtsmarkt
auf dem Klostergut Graefenthal in Asperden bei Goch. Foto: Thorsten Lindekamp / WAZ FotoPool - Graefenthal ins Mittelalter | WAZ.de - Lesen Sie hier mehr.



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