Vor Spiele:
Mörike-Spuren ...
bei Wilhelm Lehmann:
Von der Vring:
Wiederzukommen,
Neu zu erfahren,
Was uns genommen
Bei jungen Jahren.
(Aus: Die Lieder des
Georg von der Vring. Albert Langen, Georg Müller Verlag,
München, S.57)
Von der Nachwirkung Mörikes zeugen die
Werke dieser [gemeint: jungen deutschen … der 50/60er Jahre]
Dichter auch dort, wo sie (wie in der wortkargen, geheimnisvollen
Lyrik Wilhelm Lehmanns) nur von ferne an die Sehweise des großen
Schwaben, an sein Wissen um die Dinge erinnert.
»Mörike«, schreibt mir [S.S. Prawer]
Wilhelm Lehmann, "hat mich nicht etwa in eine bestimmte (andere,
von mir aus gesehen) Richtung gewiesen, sondern mich, meine Neigung
bestätigt .
So warmen
Fußes, Sommergeist,
Daß unter dir das Eis zerreißt -
Verheißung, und schon brenne ich,
Erfüllung, wie ertrag ich dich?
(Wilhelm Lehmann,
„Ahnung im Januar“)
Das scheue und zu den Elementen hin
zitternde Lebensgefühl, das sich in solchen Versen ausdrückt, ist
dem Eduard Mörikes zutiefst verwandt.
In:
Prawer, S[iegbert] S[alomon]: Mörike und seine Leser.
Versuch einer Wirkungsgeschichte. Stuttgart 1960. S. 96. - Prawer
gibt keine genauen Daten, keine Angaben zu dem Brief Lehmanns; er
merkt an:
*
*
Trotz mancher Anklänge hält es aber
schwer, den »Einfluß« Mörikes auf die neuere Dichtung zu
ermessen.
Wir wissen zum Beispiel, daß
HofmannsthaI gern Mörikesche Gedichte vorlas: wieviel ist .aber von
der Gefühlswelt und der Rhythmik Mörikes in seine Gedichte
übergegangen? Wieweit ist etwa „Vorfrühling“ den
»Wind«-Gedichten Mörikes verpflichtet? Gehen nicht Rilkes
»Dinggedichte« .zuletzt auch auf die Mörikeschen Dinggedichte
zurück, mit denen sie so gern verglichen werden? Und hat sich nicht
selbst ein so »unMörikesches« Werk wie Trakls „Abendland“
zuletzt auch an den freien Rhythmen von Mörikes „Äolsharfe“
geschult?
- Trakl, Nossack...
#
O des Knaben Gestalt
Geformt aus kristallenen Tränen,
Nächtigen Schatten.
Zackige Blitze erhellen die Schläfe
Die immerkühle,
Wenn am grünenden Hügel
Frühlingsgewitter ertönt.
(Georg
Trakl: Die Dichtungen. Otto Müller Verlag, Salzburg 1938, S. 171)
Von „Einfluß“ im gewöhnlichen
Sinne ist hier nicht mehr zu reden - aber Mörikes eigentümlich
schwankende Gefühlswelt und subtile Rhythmik haben soldie Dichtung
gewiß mitbestimmt. Nun darf natürlich nicht geleugnet werden, daß
die heutige Dichtung durch eine tiefe Kluft von Mörike getrennt ist
- wie ja auch die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts Dinge er leb
t haben, von denen die des neunzehnten höchstens einmal angsterfüllt
träumten. Nach dem Naturalismus und der Neuromantik, nach dem
Expressionismus, dem Surrealismus und der neuen Sadilldikeir, nach
Rilke, Eliot, Valery, Lorca und Gottfried Benn kann der moderne
Dichter kaum mehr auf Mörike zurückblicken. »Nadi meinem
persönlichen Dafürhalten«, schreibt mir deshalb Klaus Demus,
dessen Urteil sich audi andere Dichter unserer Zeit (darunter Günter
Eich, Karl Krolow und Ilse Aichinger) anschließen, »sehe ich keine
Möglichkeit einer Beziehung zwischen Mörike und der modernen
Dichtung. . .. Nein, im kann nicht sehen, daß Mörikes Dichtung von
ihrem Ort aus weiterwirken könnte.« Und trotzdem wirkt sie weiter!
Wenn auch von unmittelbarem »Einfluß« nur wenig die Rede sein
kann, so ist doch gewiß, daß, wie es Hans Erich Nossack ausdrückt,
»kein Deutscher, der Verse schreibt, ohne die Mörikeschen Zeilen:
-Gelassen stieg die Nacht ans Land- oder -Der Sonnenblume gleich
steht mein Gemüte offen- oder ohne -Orplid- zu denken ist«.3
Unerwartet leuchten in Iosef Weinhebers -Du bist Orplid- 4 und in
Gottfried Benns späten Gedichten Mörikes Visionen als ungestillte
Sehnsucht auf, als verlorenes Gut, das es wieder zu erringen gilt:
Wilhelm Lehmann:
EDUARD MÖRIKE
Text zur Schallplatte: „Eduard
Mörike. Eine
klingende Anthologie“. Christophorus Verlag Freiburg.
(e: 1961; ED in W. L.: GW. Bd. 8, S. )
Am schnell verrauschenden Strom der
Zeit bilden sich immer wieder Uferstellen, an denen der eilige Mensch
entzückt stehen bleibt, in einer Zeitlosigkeit zu verweilen, die
sein Leben erfrischt. Die Dichtung Eduard Mörikes bedeutet eine
solche Stelle. Alle Kunst setzt uns in den Stand, über dem Schweren
leicht zu werden. Im Leben Mörikes gab es viel Qual; er wurde deren
Herr mit Hilfe der Dichtung. Wir nennen heute Kunst, die das Innere
erschüttert, existentialistisch: ihr [sic!] steht das Dasein auf dem
Spiele. Kunst als höchster Lebensernst war das Ergebnis unserer
klassischen Epoche gewesen. Einer alteingesessenen schwäbischen
Bürgerfamilie entstammend, 1804 in Ludwigsburg im Neckartal geboren,
reicht Eduard Mörike also noch in die Klassik und erlebt die späte
Romantik als Gegenwart. Der Neunundzwanzigjährige bekennt dem
sechzigjährigen Ludwig Tieck »unbedingte Hingebung und immer neue
Bewunderung«. Als Schüler, als Student ergeht Mörike sich, nach
ungetrübter Kindheit, mit vertrauten Freunden in Märchenphantasien.
erfindet Orplid, das „Land, das ferne leuchtet“, ergötzt sich an
Puppenspielen und will das Klaviera]
aufs freie Feld schaffen, um in der Nacht darauf zu spielen. War es
Goethes Tat, in allen Dingen auf das individuelle Erlebnis
auszugehen, schwelgte die Romantik vollends in der Ungehemmtheit des
persönlichen Lebens. Aber wenn Goethe den Überschwang der
Romantiker beklagte: »Das will alles umfassen und verliert sich
darüber immer ins Elementarische«, so bewahrte vom Klassischen her
die Form Mörike vor dem Zerfließen in die Naturseligkeit. Daß er
dies vollendet darstellt, macht seine Bedeutung aus. Er steht „dem
Eindruck naher Wunderkräfte offen, / Die aus dem klaren Gürtel
blauer Luft / Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft“. Er
lauscht den Erscheinungen und hört: »Horch! auf der Erde feuchtem
Grund gelegen, / Arbeitet schwer die Nacht der Dämmerung entgegen«,
und» Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift / Und klingend
jetzt den jungen Hain durchläuft!« Er findet das beschwörende Wort
von »der Erdenkräfte flüsterndem Gedränge« und preist den Fluß,
der ihn „mit Liebesschauerlust“ kühlt. Heidnisches und
Christliches streiten sich um sein Wesen. Als amtierender Pfarrer ist
er nie glücklich, gerade weil Lieder wie „Wo find ich Trost?“
und „Neue Liebe“, Seufzer aus gepreßter Brust, offenbaren, wie
nahe ihm das christliche Mysterium ist. Er fürchtet überhaupt den
Aufruhr der Gefühle, sie möchten ihn zerschmettern: »Wollest mit
Freuden / Und wollest mit Leiden / Mich nicht überschütten« (wobei
»vergnügt“ in der ersten Strophe den alten Sinn 'begnügt'
trägt).
Der Begriff des »Biedermeiers« besagt
hier gar nichts; Innigkeit, das wäre die schlüssige Bezeichnung.
Nur Oberflächlichkeit glaubt, Mörikes Kunst als spielende Anmut
ausreichend gekennzeichnet zu haben; es braucht nicht erst der
Vertiefung durch Hugo Wolfs Kunst, das zu offenbaren. Es gibt
harmlose, freundliche Naturen, denen zerstörerische Leidenschaften
fernbleiben; liebenswürdige Zugänglichkeit kostet sie nicht viel.
Mörikes Seelengrazie jedoch ist Sieg über das Chaos des aufgeregten
Innern. Sie wird ihm zur Sprachgrazie. Das ist sein Triumph. Er hat
das Jauchzen erfüllter, die Pein enttäuschter Liebe gesungen („Ein
Stündlein wohl vor Tag“, „Das verlassene Mägdlein“). Ihm
selbst hat die irdische Liebe mehr Leid als Glück gebracht. Den
Studenten der Theologie stürzt die Begegnung mit einem noch heute
rätselhaft gebliebenen Mädchen von großer Schönheit - halb
verlorenes Kind, halb Nymphe - in selig-unseligen Wirrwarr. Die
Peregrinalieder, voll von Mignonklängen, bezeugen es. Als Vikar
eines schwäbischen Dorfes verlobt er sich mit der sanften Luise Rau,
einer Pfarrrerstochter. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse, die
sein Leben lang unsicher bleiben, mehr noch seine religiöse Haltung
machen eine Bindung unmöglich. Er heiratet 1851 Margarethe von
Speeth, zwei Töchter werden geboren, nach zweiundzwanzig Ehejahren
wird eine Trennung nötig. Unentbehrlich bleibt ihm die Schwester,
Klärchen, bleiben Freunde, darunter der „Urfreund“, der
gleichaltrige Pfarrer Wilhelm Hartlaub. Der Siebzigjährige schreibt:
„Der beste Trost, der uns noch bleibt, sind unsere Freunde.“
Mörike ist auch ein zuweilen karger,
zuweilen überströmender ausgezeichneter Briefschreiber gewesen.
Allein die Briefe an Wilhelm Hartlaub machen in der Handschrift fünf
robuste Bände aus. Alle seine Erlebnisse legt er in dem Roman „Maler
Nolten“ nieder, einem Zauberbuche, das Wirklichkeit und Traum
zusammenbildet. Es erscheint im Todesjahr Goethes. Wir müssen es in
der ersten Fassung lesen,wiewohl der Verfasser sie nicht
wiedergedruckt wissen wollte.
Ludwig Bauer, der Jugendfreund, hat
Mörike als Verkörperung der Poesie empfunden. Mörike war eine
scheue, sehr zarte, viel kränkelnde, gleichwohl zähe Natur. An dem
erst Einundfünfzigjährigen entdeckt Theodor Storm bereits
»verfallene Züge«. Gewisse Einflüsse trotzig abwehrend und nie
weichlich, spricht Mörike selbst von »dem unglaublich verzärtelten
Gang meines inneren Wesens«1.
Er hatte anderes zu tun, als in die politischen Vorgänge seiner Zeit
einzugreifen, aber er beachtete sie wohl. Shakespeare, Goethe, Jean
Paul, Lichtenberg liebend zugetan, sucht er in Zeichnen, Malen,
Schnitzen, Töpfern, im Sammeln von Münzen und besonders
Versteinerungen, im Hegen von Tieren und Pflanzen Erleichterung
seiner schwierigen Existenz. Die Musik bedeutet ihm das größte
Wunder. Mozart wahrhaft geistähnlich, schreibt er die Novelle
„Mozart auf der Reise nach Prag“, eine Herrlichkeit unserer
Prosa. Sie schildert einen sonnigen Tag im Leben des Bewunderten. Die
Baßsaite des Todes durchdringt die Helle. Ergriffen hören wir zu.
Wir Heutigen sind empfindlich gegen Abschilderung musikalischer
Vorgänge in poetischer Weise; aber es trifft uns, wenn der Choral
„Dein Lachen endet vor der Morgenröte“ aus Mozarts „Don
Giovanni“ von Mörike so wiedergegeben wird: „Wie von entlegenen
Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark
und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht.“ Die
Novelle endet in die todesbangen, todesgewissen Verse: „Ein
Tännlein grünet wo.“
Alles Gestaltete ist heiter, und noch
die betrübteste Melodie tröstet. Die Melancholie hat sowieso die
Heiterkeit zur Schwester. Mörike kennt auch das Behagen Goetheschen
Charakters. Die Poesie arbeitet der Flucht der Erscheinungen
entgegen, hält mit liebender Hand Dinge, Situationen, Ereignisse,
Wesen fest. Gegen die Überzeugung, »daß nichts bleibt und kein
Moment des Genügens uns Stand halten kann«, befreundet er sich, in
»sanfter Wollust seines Daseins«, mit den Menschen, Tieren,
Pflanzen, der Landschaft seiner nächsten Umgebung und schreibt
Idyllen wie die vom Bodensee und dem „Alten Turmhahn“.
Es ist oft, als befrage er die Dinge
selbst, und sie antworten launig, vom Schweigen erlöst; auch die
Menschen ergehen sich dabei in der energischen Lust des bloßen
Daseins. „Erdenleben, laß dich hegen. Uns ist wohl in deinem Arm“,
heißt es im Gedicht „Herbstfeier“; ein anderes feiert „das
schöne Gemüt“, weil es »den heiteren Blick doch in die Welt noch
behielt“. Nietzsche, dessen fanatischem Auge unsere Zivilisation
fast nur Schäden aufwies, entgeht in seinen Betrachtungen über
Kunst und Künstler nicht der Gefahr, beide zu sehr als sein Material
anzusehen. Aber Kunst ist der Triumph und das Symbol des Lebens an
sich und unterliegt nicht den Werturteilen selbst der radikalsten
Philosophie. Zuweilen ahnt Nietzsche das, und wie er über Carl Maria
von Weber schweigt, ist sein Angriff auf Mörike abwartender im Ton,
als es sonst bei ihm zu sein pflegt. Er merkt es wohl, daß ihm eine
solche harmlose Poetenseele ein Schnippchen schlagen kann. Wie wenig
auch dem bitteren Philosophen ein Dichter des Idyllischen und
Volksliedhaften, nach Goethe und als Zeitgenosse Schopenhauers, in
sein Konzept paßt, Mörike ist mit Daseinsherrlichkeit da, und das
Dasein kann man nicht bestreiten. Der wunderbare Mann hat es nicht
nötig, sich zu rechtfertigen:
Am Waldessaume kann ich lange Nachmittage,
Dem Kuckuck
horchend, in dem Grase liegen;
Er scheint das
Tal gemächlich einzuwiegen
Im friedevollen
Gleichklang seiner Klage.
Da ist mir
wohl, und meine schlimmste Plage,
Den Fratzen der
Gesellschaft mich zu fügen,
Hier wird sie
mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf
eigne Weise mich behage.
Und wenn die
feinen Leute nur erst dächten,
Wie schön
Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie würden
mich zuletzt noch gar beneiden.
(In: L. W.:
G.S. Bd. 8. Autobiographische und Vermischte Schriften. Hrsg. v.
Verena Kobel-Bänninger. Stuttgart 1999. Text S. 454 – 458. Anm. S.
770 – Dieser Essay ist auch im Internet erreichbar, in einem
Schüler-Forum:
http://www.biblioforum.de/forum/read.php?35,10279
Ich füge an:
Erläuterungen der Herausgeberin
Verena Kobel-Bänninger: (Ich gebe die Seiten- und Zeilenangaben nach
der Abdruck an.)
- Die Schallplattenreihe »Deutsche Dichtung. Eine klingende Anthologie« war nicht zuletzt für die Verwendung im Unterricht gedacht. Lutz Besch, der am Aufbau der Reihe maßgebend beteiligt war, erwartete jedoch, als er Lehmann um das Geleitwort für eine Mörike-Platte bat, keine didaktischen Hinweise. Diese wurden, von Paul Wanner verfaßt. der Platte gesondert beigegeben. Vielmehr wünschte er sich einen »besonders schönen und eindringlichen Text«, in dem ohne »journalistische Glätte« das »Betroffensein seines Autors durch die Dichtung Mörikes gespiegelt sein sollte.« (An Wilhelm Lehmann, 9.6.1961) Gesprochen bzw. gesungen wurden folgende Stücke: 1. Im Frühling 2. Nachts 3. Ein Stündlein wohl vor Tag 4. Das verlassene Mägdlein 5. Schönes Gemüt 6. Erinna an Sappho 7. Neue Liebe 8. Wo find ich Trost 9. Denk es, o Seele (ln der Vertonung von Hugo Wolf; Claus Ocker, Bariton - Walter Bohle, Klavier) 10. Idylle vom Bodensee - Dritter Gesang.
- Die Auswahl stammt nicht von Lehmann, lag ihm aber vor und wurde bei der Abfassung des Textes berücksichtigt.
-
- 454,17 dem sechzigjährigen Ludwig Tieck: Brief vom 20. 2.1833.
- 454,27f. »Das will alles umfassen ... «:Brief von Sulpiz Boisseree an seinen Bruder, 4.5.1811. Siehe die Erläuterung zu 384,221
- 454,32ff. »dem Eindruck naher Wunderkräfte ... «:»An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang«, 2. Strophe.
- 455,2f. »Horch! auf der Erde ... «: »Nachts«,
- 455,3-5 »Wie süß der Nachtwind ... «: »Gesang zu zweien in der Nacht«.
- 455, 6 »der Erdenkräfte ... «: Ebd., von Lehmann öfters zitiert. Vgl. 227,21 und Lesart zu 171,251
- 455,7 »mit Liebesschauerlust«: »Mein Fluß«.
- 456, 91 »Der beste Trost. ..«: Brief vom 5.9. [1873} an Wilhelm Hemsen (1828-1885), in: Eduard Mörike, Unveröffentlichte Briefe. Hrsg. von Friedrich Seebaß. Zweite, umgearbeitete Auflage. Stuttgart: Cotta 1945, S.469.
- 456,17f. Wir müssen es in der ersten Fassung lesen: Die Umarbeitung, welche nach Mörikes Willen die frühere Fassung ersetzen sollte, blieb unvollendet. Vgl. Mörikes Brief an Wilhelm Hartlaub (10.3.1868), wo es heißt: »Sie [die Arbeit am Maler Nolten] muß aber getan sein, und falle sie aus, wie sie wolle, so weiß ich doch, daß ich mit dieser Umformung das alte Buch vertilge, d. h. den Wiederabdruck unmöglich mache.« Lehmann besaß eine Ausgabe der Erstfassung (Eduard Mörike, Maler Nolten. Ein Roman. In ursprünglicher Gestalt. Leipzig: Insel- Verlag [1913]. Vgl. 72,22-25.
- 456, 24 »verfallene Züge«: Vgl. »Meine Erinnerungen an Eduard Mörike«. Storm, Bd. 4, S. 480.
- 456,25 f. von »dem unglaublich verzärtelten Gang meines inneren Wesens«: Brief an Wilhelm Waiblinger [August 1824].
-
- 457,28 ein anderes: [Das schöne Gemüt].
- Ich ergänze:
- [Schoenes Gemuet. 1861]
Wieviel
Herrliches auch die Natur, wie Grosses die edle
Kunst auch schaffe, was geht ueber das schoene Gemuet,
Welches die Tiefen des Lebens erkannt, viel Leides erfahren
Und den heiteren Blick doch in die Welt noch behielt? –
Ob dem dunkelen Quell, der geheimnisvoll in dem Abgrund
Schauert und rauscht, wie hold laechelt die Rose mich an!
Kunst auch schaffe, was geht ueber das schoene Gemuet,
Welches die Tiefen des Lebens erkannt, viel Leides erfahren
Und den heiteren Blick doch in die Welt noch behielt? –
Ob dem dunkelen Quell, der geheimnisvoll in dem Abgrund
Schauert und rauscht, wie hold laechelt die Rose mich an!
458,12
»Am Waldessaume ... «: Das Sonett »Am Walde« wurde auf der
Plattenhülle ohne Stropheneinteilung und ohne die letzten drei
Zeilen abgedruckt. Der Anfang lautet bei Mörike: »Am Waldsaum kann
ich ... «.
Mörike: Am Walde
*
[Es fehlt das letzte Terzett:]
Denn des Sonetts gedraengte Kraenze
flechten
Sich wie von selber unter meinen Haenden,
Indes die Augen in der Ferne weiden.
Sich wie von selber unter meinen Haenden,
Indes die Augen in der Ferne weiden.
Als komplettes
Sonett sieht der Text so aus:
Eduard Mörike: Am Walde
Am Waldsaum
kann ich lange Nachmittage,
Dem Kukuk horchend, in dem Grase liegen;
Er scheint das Tal gemaechlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Dem Kukuk horchend, in dem Grase liegen;
Er scheint das Tal gemaechlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Da ist mir wohl, und meine schlimmste
Plage,
Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fuegen,
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eigne Weise mich behage.
Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fuegen,
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eigne Weise mich behage.
Und wenn die feinen Leute nur erst
daechten,
Wie schoen Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie wuerden mich zuletzt noch gar beneiden.
Wie schoen Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie wuerden mich zuletzt noch gar beneiden.
Denn des Sonetts gedraengte Kraenze
flechten
Sich wie von selber unter meinen Haenden,
Indes die Augen in der Ferne weiden.
Sich wie von selber unter meinen Haenden,
Indes die Augen in der Ferne weiden.
Erläuterungen:
Von Nietzsche
ist die schmähliche Aburteilung zu Mörike bekannt: „ganz schwach
und undichterisch“ bekannt.
Im Original so:
8 [2]
Gegen die
lyrische Poesie bei den Deutschen. Da lese ich, daß gar Mörike der
größte deutsche Lyriker sein soll! Ist es nicht ein Verbrechen dumm
zu sein, wenn man hier also Goethe nicht als den größten empfindet
oder empfinden will?— Aber was muß da nur in den Köpfen spuken,
welcher Begriff von Lyrik! Ich sah mir darauf diesen Mörike wieder
an und fand ihn, mit Ausnahme von 4—5 Sachen in der deutschen
Volkslied-Manier, ganz schwach und undichterisch. Vor allem fehlt es
ganz an Klarheit der Anschauung. Und was die Leute an ihm musikalisch
nennen, ist auch nicht viel: und zeigt wie wenig die Leute von der
Musik wissen: die mehr ist als so ein süßliches-weichliches
Schwimm-schwimm und Kling-kling!— Gedanken nun hat er gar nicht:
und ich halte nur noch Dichter aus, die unter anderm auch Gedanken
haben, wie Pindar und Leopardi. Aber was kann auf die Dauer einem
diese Knaben-Unbestimmtheit des Gefühls sein, wie sie im deutschen
Volkslied sich ausdrückt! Da lobe ich mir selbst noch eher Horaz, ob
der schon recht bestimmt ist und die Wörtchen und Gedänkchen wie
Mosaik setzt. (Friedrich
Wilhelm Nietzsche: Fragmente 1875-1879, Band 2. „Sommer
1875“. „Gegen die lyrische Poesie bei den Deutschen“)
* ~ *
DER ZITRONENVOGEL
(1949; ED; aus:
W.L.: GW. Bd. 8, S. 326 - 328)
Der erste
durchwinterte Zitronenfalter zickzackt über die schon lange
blühenden, stäubenden Haselbüsche. In seiner Einsamkeit bannt er
den Blick doppelt, dreifach. Das Schwefelgelb seiner graziös
gebuchteten Flügel, die weiße Seidenmähne seines Rückens
entzücken, als sähe man ihn zum erstenmal. So schönes Geschöpf
braucht keine Stimme. Dem Urgrund, dem er entstieg, legten die
Gnostiker das Schweigen als Gattin bei. Mag den Zarten
wiedereinfallende Kälte vernichten, er leistet als Vergängliches
den wundervollen Dienst des Gleichnisses. Lautlos deutet er auf die
große Einheit. Stoff und Geist hat noch kein Wort gespalten. Welche
Weisheit des Fleisches, welche Geistigkeit der Materie! Vertieft sein
Anblick das Schweigen um die Phänomene - wenn es sich löst, spricht
es mit Mythen, mit Symbolen als allein ihnen gemäßem Ausdruck. Er
läßt Jules Renard vom Körper als dem klugen Hunde der blinden
Seele und die alten Chemiker vom Archäus sprechen als einer jedem
Bestandteil der körperlichen Welt innewohnenden plastischen Natur,
deren Wesen man Denken nennen kann, wenn man nur darunter kein
Bewußtes versteht. Und die Gnostiker glaubten, daß die in der (ganz
platonisch gefaßten) Materie gehaltene und darin waltende Weisheit
den Demiurgos, den Gott des alten Bundes,ihm selber unbewußt dahin
bringe, ihren und aller Dinge Rückgang in die Fülle des Seins zu
vermitteln. Wir geraten mit dem Falter in die Vorwelt, da man noch
wußte, wieder Materie zumute ist, denn das Ich ist, mit Gottfried
Benn zu sprechen, eine späte Stimmung der Natur. Wir sind in der
Zeit, da die Wissenschaft noch nicht aufgehört hatte zu verehren.
Noch wird die Schlacht nicht geschlagen, die toben wird zwischen
denen, die das Allgemeine und denen die das Einzelne für das Primäre
halten. In seinem Fluge preist der Falter die ungeschiedene
Einhelligkeit. Das Zergliedern,wie es die neue Wissenschaft emsig
trieb, heilt zum Ganzen. Goethe beklagt die Zerstückelung der
zeitgenössischen Naturwissenschaft. »Indem ich Linnés scharfes,
geistreiches Absondern, seine treffenden, zweckmäßigen, oft aber
willkürlichen Gesetze in mich aufzunehmen versuchte, ging in meinem
Innern ein Zwiespalt vor: das,was er mit Gewalt auseinander zu halten
suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur
Vereinigung anstreben.« Er fragte,warum die Naturforscher nicht ein
so wichtiges Phänomen,wie es die Metamorphose der Insekten
darstellt, auf allen Straßen predigen. Wie versagen auch noch heute
die meisten Naturkundebücher! Sie geraten in ein wässeriges
Salbadern, in eine nichtige Vermenschlichung, oder sie ergehen sich
in unfruchtbaren Synthesen oder werden als Aufzählung harter,
abrupter Details, Nekro- statt Biologie. Wer sah schärfer, redlicher
als Goethe? Wer hütete sich mehr den Gegenständen die Grille, die
einem durchs Gehirn läuft, aufzuheften? Er sah im Realen das
Ideelle. Der wahren Naturkunde dient als Motto, was Tschuangtse
sagt:Wenn man die einzelnen Glieder eines Pferdes aneinanderreihen
wollte so würde man noch kein Pferd dadurch bekommen: »Das Pferd
muß zuerst dasein und seinen einzelnen Teilen Zusammenhang geben,
dann erst haben wir das vor uns, das wir Pferd nennen.« Die
Tatsache, daß einer Eidechse der verlorene Schwanz nachwächst,
rührt aus der Einheit des Tieres. Es ist die Idee der Eidechse, die
das Organ wieder ersetzt. Gegenüber so lebhaft-zartem Wesen,so
glücklicher Mobilität werden abstrakte Fragen gegenstandslos: Ob
etwa die Sinnlichkeit mehr der Feind als der Diener der wahren
Erkenntnis oder ob die Empfindung mit Fichte und Leibniz ein unreines
Denken oder mit Condillac das Denken ein verfeinertes Empfinden sei.
In einem zeugenden Augenblick fallen Empfindung und Denken zusammen,
bilden Außen und Innen sich in eins.(»So im Anschauen wie im
Begriff« glückte es Goethe 1787 in Sizilien, die Metamorphose der
Pflanzen zu gewinnen.) Vielleicht hat Leibniz recht mit seiner
Behauptung, wer nur deutliche Gedanken hegte wie Gott, der hätte
keine Sinnesempfindungen. Kaum ins Dasein gerückt aber, unterliegt
der Zitronenfalter dem Gebot der Endlichkeit. Mit unbeirrbarer
Sicherheit eilt er dem auf ihn wartenden Weibchen zu und vollzieht
die Verbindung. Als irdisches Wesen trifft ihn wie den Menschen jene
kleine Zäsur im All, der Zwiespalt der Geschlechter. Es ist, als ob
das derbe All seine Zartheit nicht entbehren könne, als ob die Idee
seine Art zu perpetuieren beflissen sei, damit uns der Falter als
leiser Wink ihrer Götternähe, als Gruß des reinen Seins, nicht
verlorengeht.
(ED in Welt am
Sonntag. Nr. 14 v. 3.4.1949; abgedruckt nach Bd. 8, S. 326 - 328;
Anm. S. 729f.)
Erläuterungen
nach S. 729f.:
Erdmann, Johann
Eduard (1805 - 1892): Grundriß der Geschichte der Philosophie. Bd.
1,2; 2. Aufl. Berlin: Wilhelm Hertz 1870. Hier: § 123,,2; in Bd. 1.
S. 195
Anm.:
Condillac, M.
L. Abbé (s. S. 727: Erläuterung zu S. 322,27)
a]
Die „Story“ vom ins Freie gehobene, geschobenen Klavier ist mir
aus der Mörike-Biografik nicht bekannt; glaubhaft als bezeichnende
Extraordinalität ist sie allerdings schon, obschon arg
übertreibend.
1]
Das Zitat findet sich als authentische, intime Aussage Mörikes in
seinem Brief an den Jungfreund Wilhelm Waiblinger, den er derozeiten
noch mit „Sie“ anredete, aus August 1824,sich selbst
psychologisch zu diagnostizieren: : „unglaublich verzärtelten
Gang meines inneren Wesens“.
Genauer
Wortlaut des allbekannten Zitats (aus dem Brief an Wilhelm
Waiblinger v. 13. oder 14. August 1824):
Als
Neunzehnjähriger diagnostizierte Mörike, nicht zufällig in einem
Brief an Waiblinger, seine eigene Lebensschwäche:
„Es
ist überhaupt in meinem wirklichen Zustand ein besonders peinlicher
Zug, dass alles, auch das Kleinste, Unbedeutendste, was von außen
an mich kommt - irgendeine mir nur einigermaßen fremde Person, wenn
sie sich auch nur flüchtig nähert, mich in das entsetzlichste
bangste Unbehagen versetzt und ängstigt, weswegen ich entweder
allein oder unter den Meinigen bleibe, wo mich nichts verletzt, mich
nichts aus dem unglaublich verzärtelten Gang meines innern Wesens
heraus stört u. zwingt.“ (EM: WuB. 10, S. 57 – 61;
hier S. 59;6f.
–
Dieser August-Brief an Waiblinger enthält noch andere poetische
Hinweise: “(...) ob Du nicht in der leztern Zeit einen Traum
gehabt habt, wo sich alle schönen Gestalten in Feuer und Qualm
aufgelößt u. Dich zum Theil verlassen haben, zum Theil neben Dir
in den Schutt versunken, vergangen seyen (...)“(S. 58) – die
Gestalt und das Schicksal des Schemens vom Feuerreiter, bezogen auf
den Sprecher. M. Selbst hat ja den Zeitpunkt der Entstehung der
Ballade auf den Sommer 1824 bestimmt. Ich glaube, M. beschreibt
hier im Brief verstörende Gefühlsmomente ob seltsamer Gestalten.
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