>> Girlande. Fotografie: Marie Curie Gymn.-
Die neue Lektüre im Deutschkurs GK 12.3
Oder
Die Vorbereitung neuer Irrtümer
"Herr G.! Der "Fabian" von Kästner gefällt mir ja auch ganz gut. Wenigstens nach der Seite, die Irina vorgelesen hat. Aber ich habe auch noch einen Vorschlag für unsere Lektüre. Einen Roman aus dem Jahr 1997."
"Ja, Bärbel. So aktuell?!"
"Ich möchts ein kurze Passage vorlesen, ohne daß ich vorher den Autor verrate."
"Aha, ein kleines literarisches Rätsel. Da woll'n wir aber mal besonders gut aufpassen: Also: unser Suchmuster? Heinrich, wiederholen Sie mal, bitte. - Ja, bitte, unser Suchmuster für neue Texte?"
"Ah, so. Ja: Also: Erste Gesichtspunkte über folgende Stichworte. (Liest ab): Autor: Frau oder Mann? Heute oder gestern, aktuell oder historisch? Stil: Stilschicht, Metaphern, Syntax und Wortwahl. Erzählhaltung, Erzählerposition."
"Noch was?"
"Ja, Problem- bzw. Problemhintergrund. Zeitbedingungen. Assoziationen. Gedankenfülle des Romans. Eher Fiktion oder nonfiction. Prodesse et/aut delectare? Also Unterhaltung oder -"
"Okay, danke.
"Ja, lesen Sie mal, Bärbel?"
Sie hält ihr Buch, ein kleines, dickes Taschenbuch, so verdeckt, daß keiner das Titelblatt einsehen kann; schlägt an einer bestimmten Seite auf, legt das herausgenommene Lesezeichen auf das Pult und beginnt:
"Da treffen sich zwei in der Kneipe.
'Toni, so hieß der Mann mit der Halbglatze, mußte grinsen. Wir frotzelten noch ein wenig hin und her und kamen dann zu ernsteren Themen, als mir der Libanese das Bier gebracht hatte. Toni war Lehrer und hatte einen derben Frust. Seine Frau war ihm vor vier Wochen weggelaufen, mit seinem Auto hatte er einen Totalschaden und der Rektor hatte ihn am Mittag ermahnt, doch in Zukunft pünktlicher zu sein.
'Alter Scheißer', sagte er, 'das ist ein total reaktionärer Typ. Hat kein bißchen Liberalität im Bauch. Der hat nicht nur auf mich einen Kieker. Auch Ausländer kann der nicht ab.'
Toni nahm wieder einen Schluck. Er erzählte von dem unerträglichen Klima in seiner Hauptschule. Da würde die Ausländerfeindlichkeit gezüchtet, die ausländischen Kinder stigmatisiert, und Menschen wie dieser Schulleiter wären mit dafür verantwortlich. Toni hatte offensichtlich schon einige Gläser getrunken, doch das Thema Ausländer beschäftigte ihn sehr. Sechzehn von sechsundzwanzig Kinder wären Türken und Asylbewerber, erzählte er mir. Das ginge nicht, die Klassen müßten verkleinert werden. Spezialunterricht müsse her und natürlich sozialpädagogische Betreuung. Er malte mir eine traumhafte Welt vor, in der das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern möglich war, die zu schön war und an die ich, angesichts meiner vergangenen Erfahrungen, nun überhaupt nicht glauben konnte.'
- Ach, das kann ich eben erklären: Der Ich-Erzähler ist ein holländischer Journalist, der im Ruhrgebiet recherchiert und im Klappentext als engagiert chrakterisiert wird. Nun weiter: 'Wie soll das gehen?' fragte ich ihn und fuhr fort: 'Du wirst nicht genug Geld und Personal dafür bekommen und ganz unabhängig davon, ist die Angst von vielen Einheimischen, untergebuttert zu werden oder zu kurz zu kommen, nicht mit mehr Personal aufzuarbeiten.'
Toni konnte mich nicht verstehen. Er erzählte mir irgendetwas von der Chance unserer multikulturellen Gesellschaft und von unseren Pflichten. Alles läge nur an den Politikern, die kröchen ja den Rechtsradikalen in den Arsch. CDU und SPD, da gäbe es keinen Unterschied.
Mit seiner Einschätzuung zu den großen Parteien mochte Toni ja recht haben. Nur in seinem missionarischen Eifer vergaß er die Menschen in dieser Republik. Menschen, die Angst um ihren Arbeitsplatz hatten, Sorgen mit der Wohnung und die Angst davor, erneut zur Kasse gebeten zu werden. Das immer weniger sollte jetzt noch mit Zuwanderern geteilt werden."
Bärbel schaut auf: "Das immer weniger ist übrigens falsch geschrieben. Egal ob nach neuer oder alter Rechtschreibung. Das Buch steckt übrigens auch voller Druckfehler."
Ein Stückchen weiter, Abschluß dieses Kapitels jetzt:
'Toni wohnte unweit von mir im Dortmunder Süden in einer Eigentumswohnung. Was sollte ihm passieren? Mir wurde speiübel, und mein Bier schmeckte mir nicht mehr. Ich sah auf meine Taschenuhr und stellte erleichtert fest, daß es Zeit für mich war. Ich mußte zum 'Union-Eck', um mich mit den Jungen zu treffen. Irgendwie erleichterte mich der Gedanke an Felix und seine Freunde. Mit ihrer brutalen Ehrlichkeit konnte ich mehr anfangen, als mit dem liberalen Gesülze dieses zu fortschrittlichen und weltoffenen Lehrers.'"
G.: "Na, das ist ja schön starkes Stück Prosa. - Wer möchte sich äußern?"
Nach Einschätzung einer Schülerin und einem ratlosen Lächeln des Lehrers, wer wohl diesen Text - "Soll ein Krimi sein!" ergänzte Inge - geschrieben habe, äußerte Jan: "Der erfindet doch nur diesen unmöglichen Lehrer, um ihn abzuwatschen: Erst übertreiben, dann zurechtstutzen. Ihn etwas Unsinn labern lassen, ihn mit persönlichen, individuellen Problemen auftreten lassen - und dann abwatschen. Und alles diktiert der Autor selber in seiner leicht durchschaubaren Ich-Erzählerperspektive: Der Politiker als Selbst-Rechtfertiger! Da braucht man als Leser nichts mehr zu entdecken. Der Autor erklärt dir die Welt, nach seiner Schnauze." "Ja, Welt!" ergänzte Bärbel, "einfach und gewichtig Welt! Ein weltgewandter Typ! Ein Politiker und Schriftgestellter!"
Hannes, ungnädig, weil er sich geärgert hat: "Und den Konjunktiv beherrscht er nicht: Es muß heißen: 'Die Schulleiter seien mit dafür veranwortlich...' Und, zeig mal den Text her, Bärbel! Und: seien Türken und sowieso, statt wären... Er will ja nur die indirekte Rede anwenden, weil er ihn nicht wörtlich sprchen läßt. Er will ja nicht den Irrealis begründen. D.h. das Unmögliche behaupten."
Der Lehrer, hocherfreut, ob sichtbarer Lernerfolge: "Ja, und noch eine Begründung für die grammatische Korrektur?" Inge meldet sich: "Der Autor kann und will ja nicht behaupten, daß Tonis Aussagen nicht stimmen."
Und noch einige Wortmeldungen über den Text...
Der Mißbrauch der vielen Indefinitpronomen sei verräterisch: Statt mit Adverbien zu charakterisieren, mit Nomen zu glänzen, schreibe er: irgendetwas und irgendwie... "Zu viel Umbestimmtes! Da muß er noch hinkucken in die Realität, um da was bestimmen zu können. Da hat ihm wohl ein Haupschullehrer mal in den Nachmittagskaffee beim Ortsverein gespuckt!" - "Äh, ja, ein Roman ist keine Schimpfrede für den Bundestag."
Endlich lüftete Bärbel das Geheimnis: "Der Autor ist unser Ex-Bürgermeister W.J. und Abgeordneter in Bonn und Beauftragter für irgendetwas." "Für Aussiedler und so!"
"Aha, der Meister, der vor fünf Jahren im einem gut bürgerlichen Viertel mit der Mietforderung in seinem von der VEBA fast geschenkten Altbau über die Vergleichsmiete für Korthusen hinausgehen wollte. - Und zur Sprache...?" Lehrer G. hatte sich gehen lassen.
Die Frage eines Schülers führte ihn zurück: "Müssen wir darüber noch abstimmen? Über den Text, mein ich? Das kann uns Bärbel doch in einem Kurzreferat erledigen! Lokalpolitik und Möchtegernliteratur!" - "Aber wir können ja bei dem Text den Weizen vom Spreu unterscheiden?" "Wo ist denn da Weizen, Fritzchen?" - "Mhm!" - "Und Trivialliteratur haben wir schon abgehakt! Im Vorjahr! Erinnerst du dich, Pitter?" - Jo: "Und wenn er doch spannend ist, der Krimi?" Bärbel: "Das hätte ich schon gemerkt!"

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