Sonntag, 11. Mai 2014

"Weihnachten im Urwald"

SIEGFRIED VON VEGESACK (1888-1974):



Weihnachten im Urwald

(Schlußsequenz der Novelle „Der Pfarrer im Urwald“ (Buchausgabe S. 70 - 74); einer „Erzählung aus Brasilien“. Geschrieben im März 1945; erschienen 1947 im Verlag Paul Keppler in Baden-Baden.)


(…) Am Abend vor Weihnachten saß ich mit dem Pfarrer wieder auf der Veranda, und Sylvia, die noch immer in voller Tätigkeit war, brachte uns zwischendurch Kostproben ihrer Kunst. Es war - trotz Sommerhitze und Urwald - doch etwas Weihnachtliches in allen diesen Vorbereitungen, vor allem in der kindlichen Vorfreude Sylvias auf das morgige Fest.
Der Pfarrer sprach jetzt oft mit mir über Sylvia, an der sein ganzes Herz hing, und über deren Zukunft er sich einige Sorgen machte:
"Sie gehört weder ganz zu uns Weißen, noch zu den Roten; so ein Halbblut hat es schwer, sich auf dieser Welt zurechtzufinden und sich durchzusetzen. Sie hat es mir selbst anvertraut: macht man sich in ihrer Gegenwart über die Indios lustig, fühlt sie sich ganz als Aymoré, und schimpfen die Rothäute auf die Weißen, empört sie sich als Tochter eines Weißen darüber. Wann wird dieser unselige Rassenhaß und diese Rassenüberheblichkeit endlich überwunden werden? Alles Übel kommt von diesem Nationalismus, der unseren armen Erdteil Europa wie eine Seuche befallen und zerrissen hat und - wenn er nicht in letzter Stunde noch zur Besinnung kommt - völlig vernichten wird. Gewiß, es gibt verschiedene Rassen und Völker auf dieser Erde, aber wer anders als wir ist, braucht deshalb doch nicht gleich minderwertig zu sein! Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge, und wir Deutschen, ein Mischvolk aus allen möglichen Bestandteilen, sind es am allerwenigsten. Wir haben mit unserer „Zivilisation“ bisher nur Elend über die Welt gebracht -, und sind dabei nicht glücklich geworden. Wären die braven Pommern daheim geblieben und hätten sie dort ebenso tüchtig geschafft wie hier, sie hätten es sicher weiter gebracht und wären glücklicher geworden. Und auch die Aymorés wären in ihrem Naturzustande glücklicher geblieben
Aber vielleicht ist das Glück nicht unsere Bestimmung. Bin ich denn selbst glücklich? Ist Sylvia glücklich? Sind wir nicht alle, seit Adam und Eva, in eine Schuld verstrickt, aus der wir nicht hinaus können? Das Paradies hat sich hinter uns geschlossen, und wir versuchen umsonst, wieder hineinzugelangen. Auch mein Versuch, hier abseits von der Welt ein kleines Paradies zu schaffen, ist gescheitert. Der Urwald ist mächtiger als wir, und die Urkräfte, die Dämonen, beherrschen die Welt. Wir müssen uns damit begnügen, diese bösen Mächte - wie der heilige Antonius, dem unsere Kirche geweiht ist - nicht ganz über uns Herr werden zu lassen, dem Urwald - wie wir es hier mit vereinten Kräften getan haben - ein Stückchen Kulturland abzuringen. Es ist nicht viel: man wird mit den Jahren bescheiden. Aber es ist doch etwas, was diesem Dasein einen Sinn gibt und es überhaupt erträglich macht."

Schon früh am Morgen belebte sich die Schlucht und der Abhang vor der Kirche. Die weiter entfernt wohnenden Kolonisten kamen mit ihren Frauen und Kindern angeritten, um den ganzen Tag hier zu verbringen, damit die Mulas sich vom langen Ritt erholen könnten. Jeder hatte was mitgebracht: Maisbrot, Bataten, sogar Hühnchen; am Fluß wurde abgekocht, und man lagerte im Schatten der Bäume. Die Mulas grasten auf dem Hang, bis es ihnen in der Sonne zu heiß wurde und sie den Schatten am Rande des Urwaldes aufsuchten.
Fast ununterbrochen strömte es von allen Seiten herbei: vorn anderen Ufer des Flusses, den die Frauen und Mädchen mit hochgerafften Röcken kreischend durchritten, und auch aus dem diesseitigen Gestrüpp der Schlucht, und von der Anhöhe oberhalb der Kirche. Alle waren im Sonntagsstaat erschienen: die Frauen trugen seltsame altmodische Gewänder und Kapotthütchen mit Schleifen, wie man sie bei uns vor hundert Jahren trug, und die Männer schwarze Röcke mit engen Hosenröhren, die sie beim Reiten mit Lappen gamaschenartig umwickelten. Aber erst am Nachmittag, als auch die benachbarten Kolonisten mit ihren Familien anrückten, wurde es richtig voll: überall standen die Männer und Frauen - nach altem Brauch immer getrennt voneinander - in Gruppen umher. Auf der Veranda war ein großer Tisch für alle gedeckt, wo sich jeder Kaffee, süßen Zuckerrohrsaft und Kuchen holen konnte. Die Buben und Mädchen hatten sich vor der Kirche um den Pfarrer geschart und sangen Weihnachtslieder, während er in ihrer Mitte stand und sie auf der Geige begleitete.
Außer den deutschen Kolonisten waren auch zahlreiche Farbige - Neger, Aymorés und allerlei Mischlinge, die in den Pflanzungen arbeiteten, herbeigeströmt, um am Fest teilzunehmen. Sie lagerten gesondert am Rande des Urwaldes und wurden von der alten Ayòca und Sylvia versorgt. Denn zu Weihnachten ist jedermann, der kommt, Gast in San Antonio: es ist ein Fest für alle, nicht nur für die Weißen. Diesmal war sogar ein „Turco“ erschienen, wie man hier die Syrer nennt ein beleibter Schnapsbrenner in gestreifter Pyjamajacke, der vielleicht auf ein Geschäft spekuliert hatte. Aber Cacház, der Zuckerrohrschnaps, war an diesem Tage hier streng verboten.
Am späten Nachmittag, als die Sonne sich schon neigte und in den Wäldern untertauchte, zog alles in die mit Laub geschmückte Kirche. Aber nur ein Teil fand im Inneren Platz: viele mußten sich vor dem offenen Eingang im Freien lagern. Auch ich blieb draußen, denn von hier konnte ich alles besser übersehen. den brennenden Lichterbaum am Altar, die dichtgedrängte Menge auf den Bänken - links die Männer, rechts die Frauen , und auch das bunte Bild der Leute, die sich um die kleine Kirche geschart hatten. Hier standen auch die Farbigen, die Neger und Aymorés, der dicke Syrer in seiner gestreiften Pyjamajacke und der alte Jesús mit seinem schwarzen Mohrenkopf und dem weißen Kraushaar, und lauschten andächtig, ohne sich zu rühren, dem Rauschen des Harmoniums, das aus dem Innern der Kirche drang.
Dann sprach der Pfarrer. Zum erstenmal sah ich ihn im schwarzen Talar. Er las aus dem Lukas Evangelium von der Geburt Christi und sprach dann von der Anbetung der Hirten und der Heiligen Drei Könige, die aus dem fernen Morgenlande gekommen waren, um das Kind in der Krippe anzubeten. Er sprach auf deutsch und schloß mit ein paar Worten auf portugiesisch. Dann sangen die Kinder, vom Pfarrer auf dem Harmonium begleitet, die alten deutschen Weihnachtslieder, zuletzt „Stille Nacht“.
Es war ein Bild, das ich nie vergessen werde: die kleine Kirche auf der Anhöhe, die vielen blondköpfigen Buben und Mädchen vor dem Altar, im Schein des brennenden Lichterbaumes, und hier draußen die andächtig lauschenden Neger und Aymorés, und weiter entfernt die vielen grasenden Mulas. Ein heller Lichtschein fiel aus dem Inneren auf den am Eingang gebeugt lauschenden Jesús, so daß sein schwarzer Mohrenkopf mit dem weißen Kraushaar wie von einer Gloriole beleuchtet wurde. So müssen wohl die Heiligen Drei Könige es war ja auch ein Mohr darunter - andächtig vor der Krippe gestanden haben, wie man es auf den Bildern der alten Meister sehen kann.



Kreuz des Südens

Inzwischen war es schnell dunkel geworden. Die Stimmen des Urwaldes erwachten und mischten sich mit dem orgelhaften Rauschen des Harmoniums zu einer seltsamen Symphonie, die sich brausend in die von Myriaden Leuchtkäfern durchschwirrte Nacht ergoß.
Über der Schlucht, am noch hellen Abendhimmel, wurde die schmale Orangenscheibe des jungen Mondes sichtbar, während das Sternenkreuz - etwas zur Seite geneigt - über der dunklen Wand des Urwaldes sich flammend aufrichtete.

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Inzwischen war es schnell dunkel geworden. Die Stimmen des Urwaldes erwachten und mischten sich mit dem orgelhaften Rauschen des Harmoniums zu einer seltsamen Symphonie, die sich brausend in die von Myriaden Leuchtkäfern durchschwirrte Nacht ergoß.
Über der Schlucht, am noch hellen Abendhimmel, wurde die schmale Orangenscheibe des jungen Mondes sichtbar, während das Sternenkreuz - etwas zur Seite geneigt - über der dunklen Wand des Urwaldes sich flammend aufrichtete.



                                           
                                                                 
                                 Wegweiser zum (nach humanem Ermessen) ewigen Standort des Dichters Siegfried von Vegesack.
 

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Aus: SIEGFRIED VON VEGESACK: Der Pfarrer im Urwald. Erzählung aus Brasilien. Verlag P. Keppler - Baden-Baden. Copyright 1947 by P. Keppler Verlag. Baden Baden.

Im Jahre 2008/2016 als privater Ausdruck hergestellt durch A. S. Reyntjes in 45665 Recklinghausen (Tel. 02361/25417).
Dieser hier wiedergegebene WORD private Ausdruck hat keine materielle Interessen; er ist zustande gekommen, nachdem kein Neudruck bei verschiedenen Verlagen möglich wurde und der Rechtsnachfolger des Copyright-Verlages Paul Keppler in Baden-Baden nicht ermittelt werden konnte.

Wer einen Rechtsinhaber der Novelle weiß, möge sich bitte an den Herausgeber dieses Nachdrucks wenden: anton@reyntjes.de.


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