Dienstag, 17. November 2020

Wie die Familie Campenhausen G o e t h e erlebte in Karlsbad (1823)

* "Das war Goethe" Bericht der Urgroßtante von Vegesacks Mutter, der Jenny von Campenhausen: Brief, aufgeschrieben von der „Großtante Ernestine“ - so benannt von Siegfried von Vegesack - in ihren Erinnerungen: Der 28. August 1823: Ein Donnerstag: In Karlsbad bekamen wir eine Wohnung ganz nahe beim Sprudel, die 'Blaue Kugel' genannt. Von einer Dame aufge­sucht, die früher Livländer gekannt hatte, wurden wir in die ganze Aristokratie von Weimar hineingezogen, lauter liebenswürdige Leute, mit denen man am Brunnen verkehrte. Un­ter den Badegästen, die wir kennenlernten, näherte sich uns ein Ehepaar aus Österreich oder Böhmen. Sie hießen Krametz von Lilienthal, machten einen Besuch im Hause und konnten nicht genug ihr Wohlgefallen an den Ostseeprovinzlern dar­tun. Ich gefiel ihnen ungemein, so sollten die jungen Damen bei ihnen gar nicht sein, kurzum, sie wollten für ihren ein­zigen Sohn nur eine solche Frau haben. Der Jung war aber noch ein Knabe, indes der Erbe ihrer Besitzungen. Die Dame kam nun wirklich mit ganz ernsten Vorschlägen und war fast gekränkt, daß meine Mutter es sehr scherzhaft aufnahm und meinte, damit hätte es noch Zeit. Ich war aber nicht we­nig stolz auf diesen ersten Heiratsantrag. Für mein Leben gern wäre ich alle Morgen am Brunnen mitgegangen, aber uns Mädchen wurde es nur zweimal in der Woche gestattet, wenn große Musik war. Mich amüsierte damals eben alles. Wieviel gab es auch zu sehen an den Leu­ten aus aller Herren Ländern! Ein Fürst Cantekusin aus der Moldau in den prachtvoll­sten orientalischen Costümen leuchtete schon von weitem in Citronengelb und Purpuratlas, immer von einem großen Ge­folge begleitet. Die bunteste Menge wogte besonders auf den Wandelbahnen des Neubrunnens. Auf der Promenade nach Hammer sah ich oft eine junge Frau, die vor ihrem Häuschen saß und Spitzen klöppelte. Ich schaute ihr gern etwas zu, wie die Klöppelchen nur so flogen unter ihren Händen, und hatte die größte Lust, diese nette Arbeit zu erlernen. Das ergriff die gute Mutter gleich und sprach mit der Frau. Sie ging gern darauf ein und versprach, das Nötige zu besorgen und als Lehrmeisterin alle Morgen zu uns zu kommen. Ein Klavier war schon früher gemietet worden, und nun kam diese unterhaltende Arbeit noch dazu. Bald sangen wir alle die Lie­derchen der Harfenistinnen, die uns immer so viel Spaß machten, und spielten die Tänze nach ‑ Musik war ja überall, wo man hinging. Wir hatten auch nicht geringe Lust, die wöchentlichen Réunions im Sächsischen Saal, zu denen wir immer eingela­den wurden, mitzumachen, zumal wenn man am Sonnabend, von der Promenade kommend, die auffordernde Musik hörte und die tanzenden Paare vor den Fenstern vorbeifliegen sah. Es hieß dann: 'Das steht euch noch alles bevor, wenn ihr confirmiert sein werdet!' Die liebevolle AM in der diese ein­zige Mutter alles sagte, und die Überzeugung, daß es immer nur das Rechte sein konnte, machten, daß man es nicht schwer fand, sich zu fügen. Die schöne Zeit in Karlsbad hatte ihr Ende erreicht. Doch einer seltsamen Begegnung will ich noch gedenken, die auf mich einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hat. Am letz­ten Tag unseres Aufenthaltes hatte ich mit dem Vater einen kleinen Spaziergang gemacht, auf der Straße, die nach Elbogen führt. Auf dem Heimwege, schon in Karlsbad angelangt, sahen wir vor einem Hause auf der Wiese eine größere Men­schenmenge mit einer Musikkapelle. Noch bevor wir uns er­kundigen konnten, was das zu bedeuten habe, hörten wir Rufe aus der Menge. 'Da kommt er! Da kommt er!' und gleich darauf hinter uns das Heranrollen einer Equipage, die im schnellen Trabe auf uns zukam. Wir stellten uns an den Straßenrand, um der Equipage auszuweichen, die aber genau an jener Stelle hielt, wo wir standen. Ein Mann gesetzten Alters stieg als erster aus und half einer älteren und zwei jungen Damen galant aus dem Wa­gen, nur ein paar Schritte von uns entfernt, so daß wir ihn und seine Begleiterinnen aus nächster Nähe gut sehen konn­ten. Aber so lieblich die jungen Damen auch waren, mein Blick wurde vom alten Mann so gefesselt, daß ich nur ihn sah und alles andere darüber vergaß. Nie habe ich seitdem ein solches Antlitz gesehen, von einer solchen Würde und Hoheit und dennoch heiterer Anmut, daß es mir nicht menschlich, sondern fast göttlich erschien. Er wurde gleich von der Menge umringt, und die Musikkapelle spielte. Ich stand wie gebannt und wollte bleiben, doch der Vater zog mich an der Hand, und wir gingen heim. Als wir uns ein Stück entfernt hatten und die Musik hin­ter uns verklang, blieb der Vater in großer Erregung stehen, faßte mich fest am Arm und fragte mich.‑ 'Hast du ihn ge­sehen? Und weißt du, wer es war?' 'Nein, wie soll ich das wissen?' 'Das war Goethe. Nun haben wir ihn leibhaftig gesehen: den Größten, der heute lebt!' Der Vater hatte Tränen in den Augen, als er dies sagte. Er war so ergriffen, daß er mich stumm umarmte. Dann meinte er, indem wir weiter gingen: 'Dies war das schönste, was wir erleben durften. Vergiß es nie: du hast Goethe gesehen!' 'Und warum bist du denn gleich davongelaufen? Wir hätten ihn vielleicht noch besser sehen, vielleicht sogar spre­chen können wie die andern, die sich um ihn drängten. War­um zogst du mich fort?' Der Vater blieb stehen, sah mich groß an und sagte mit Nachdruck. 'Weil man sich dem Göttlichen nicht aufdrängen soll. Wir sind ihm begegnet, wir haben ihn gesehen ‑ das genügt! Und wir haben ihn näher und besser gesehen als alle anderen: hoch im Wagen; und dann, wie er ausstieg und den Damen beim Aussteigen half ‑ ein Jüngling, trotz seiner vierundsiebzig Jahre. Ein Gott, für den es kein Alter gibt. Wir haben ihn leibhaftig gesehen. An diesen Abend sollst du dich dein Leben lang erinnern!' Wie man uns erzählte, weilte Goethe damals zur Cour in Marienbad und war für einige Tage nach Karlsbad herüber­gekommen, wo er im Hause einer Frau von Levetzow lo­gierte. Es hieß ‑ doch das habe ich erst in späteren Jahren erfahren ‑, daß er deren Tochter Ulrike habe heiraten wol­len, aber dann kam es nicht dazu. Der Altersunterschied mag wohl zu groß gewesen sein. Es war sein Geburtstag, und des­halb hatte man ihm das Ständchen dargebracht ‑ der 28. August. Es war ein Donnerstag. Am Freitagmorgen haben wir Karlsbad verlassen. Obzwar ich damals herzlich wenig von Goethe wußte, hat mich diese Begegnung doch tief bewegt, weil ich den Vater noch nie so ergriffen gesehen hatte. Auch am nächsten Tag, in der Kutsche, konnte er sich gar nicht beruhigen und ver­sicherte immer wieder, daß dies einer der schönsten Tage seines Lebens gewesen sei.« * Überliefert durch Siegfried von Vegesack: Vorfahren und Nachkommen. Aufzeichnungen aus einer altlivländischen Brieflade. 1689 - 1887. Heilbronn 1960. S. 269ff.
Büste von Siegfried von Vegesack. In Regen ** Und das Historische und das Poetische an Goethes Leben im Sommer 1823 ...? 26. Juni bis 17. September: Reise nach Marienbad (3. Juli - 2o. Au­gust), Karlsbad (25. August - 5. September), Eger und Um­gebung (5. bis 11. September). Gesellschaftlicher Verkehr wie in den früheren Jahren im Kreise der Kurgäste, zeitweise in der Umgebung des Großherzogs Carl August. Zahlreiche neue Bekanntschaften, u. a. mit der Petersburger Pianistin Maria Szymanowska, deren Spiel Goethe hier wie auch bei ihrem Aufenthalt in Weimar 24. Oktober - November tief­bewegende Eindrücke verdankt. (16. - 18. August. Gedicht "An Madame Marie Szymanowska", später unter dem Titel Aussöhnung in die Trilogie der Leidenschaft aufgenommen. I, 385.) ‑ In Marienbad und Karlsbad Umgang mit Frau v. Levetzow und ihren Töchtern. Leidenschaftliche Neigung zu Ulrike von Levetzow. Entstehung von sechs an sich gerichteteten Gedichten (I, 378ff.) im August, sowie - noch auf der Rückeise, vom 5.-7.9. der Marienbader Elegie" (I, 381ff.). (Aus: Heinz Nicolai: Zeittafel zu Goethes Leben und Werk. 1964. Titab 617.S. 145f.)

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