Siegfried von V e g e s a c k
Einsame Weihnacht
Es war vor dem
Ersten Weltkrieg. Ich studierte in Berlin, die Ferien waren zu kurz
und die Reise in meine baltische Heimat zu weit, so konnte ich zum
ersten Mal zu Weihnachten nicht nach Hause fahren. Das kam mir
aufregend, fast heroisch vor: ich fühlte mich wie ein Mann, der
einem verwegenen Abenteuer entgegengeht. Mit selbstquälerischer
Grausamkeit beschloß ich alle Torturen dieses Abenteuers
auszukosten, keine Bekannten, die mich freundlich eingeladen hatten,
aufzusuchen und ganz allein den Weihnachtsabend zu verbringen.
Ich bummelte durch
die Straßen, blieb vor den Schaufenstern stehen und zwang mich, den
Christbaumschmuck eingehend zu betrachten. ja, genau solche funkelnde
bunte Kugeln hingen zu Hause an unserem Baum, solche Ketten und
Silberfäden, die wir »Christkindleins Haar« nannten. Aber die
richtigen Sterne konnte ich nirgends finden. Um meine Qual zu
erhöhen, betrat ich sogar die Geschäfte und erkundigte mich nach
den zackigen Sternen. Aber die, die man mir vorlegte, waren viel zu
blank. Das Fräulein packte verzweifelt ganze Berge von Kästchen
aus, versicherte, daß es schönere Sterne gar nicht geben kann, aber
ich ließ mich nicht täuschen: es waren doch nicht die richtigen.
Dann kam ich an den
Verkaufsständen der Weihnachtsbäume vorbei. Als ich den herben
Geruch der Tannennadeln spürte, wurde mir ein wenig flau. Schnell
wollte ich weitergehen, aber ich zwang mich, stehen zu bleiben und
die Bäumchen aufmerksam zu betrachten, als wollte ich eines
kaufen. Doch keins gefiel mir. Sie sahen dürr und mager aus, als
wären sie gar nicht in einem Walde gewachsen. Die Verkäuferin zog
mich von einem Tännchen zum anderen.
Aber selbst
geschenkt hätte ich keines genommen: Weihnachten ohne Christbaum -
das war ja die große Sensation, die ich mit allen Qualen genießen
wollte.
Eine Orgel brummte,
ich betrat eine kleine Kirche am Wilhelmplatz. Alle Bänke waren
besetzt, ich blieb am Eingang stehen. Lange starrte ich auf die
beiden Weihnachtsbäume, die neben dem Altar brannten, und kniff mich
in die Finger. Als dann aber »O du fröhliche ... « angestimmt
wurde, fühlte ich plötzlich, wie etwas Heißes in mir
aufstieg, die Lichter fingen merkwürdig an zu flimmern, und ich
rannte hinaus.
Dann saß ich in
einem Café, das trostlos ausgestorben war, obgleich ein Plakat
»stimmungsvolle Weihnachtsfeier« ankündigte. Die Leere war
bedrückend. Der Kellner versicherte mir, das Fest werde um acht Uhr
beginnen. Aber vor dieser stimmungsvollen Feier hatte ich eine noch
größere Angst. Ich zahlte und ging. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße
bestieg ich den Zug, um nach Charlottenburg zu fahren, wo ich wohnte.
Ein älterer Herr saß im Abteil mir gegenüber und las in einem
Buch. Nach einiger Zeit klappte er das Buch zu und legte es bei
Seite. Wir kamen ins Gespräch.
»Ja, heute ist
Weihnachten«, meinte er nachdenklich, »der unangenehmste Abend im
ganzen Jahr, wenn man allein ist! Sie fahren wohl zu Ihren Eltern,
Geschwistern, Freunden oder Bekannten, aber ich fahre, - ja, wie soll
ich Ihnen das erklären. Ich fahre einfach so spazieren, in der
Ringbahn, immer um die Stadt herum! Das mache ich immer am Heiligen
Abend. Denn ich habe niemand, zu dem ich fahren könnte, und in
meinen vier Winden halte ich es nicht aus. In den Lokalen erst recht
nicht. Ich sage Ihnen, junger Mann, für den Fall, daß Sie einmal
ganz allein zu Weihnachten sein sollten - in der Eisenbahn ist es am
leichtesten. Man ist allein und doch nicht ganz allein. Menschen
steigen ein und aus, immer neue Gesichter. Und die Hauptsache - man
bewegt sich, man kann sich doch einbilden, daß man irgendwohin
fährt, daß man irgendwo erwartet wird ...“
Wir waren längst
über Charlottenburg hinausgefahren, als der alte Mann sich erhob:
jetzt müsse er wieder umsteigen. Und da ich wirklich zurückfahren
mußte, stieg ich mit ihm in den nächsten Gegenzug. Noch lange
fuhren wir an diesem Weihnachtsabend rund um Berlin spazieren,
wechselten bald hier - bald dort die Züge und fanden fast überall
leere Abteile. Es war, als liefen die Züge nur für uns. Und der
alte Herr erzählte, und ich erzählte, und bald kam es mir so vor,
als hätten wir uns schon lange gekannt.
»Wissen Sie,
junger Mann«, fuhr der alte Herr fort und beugte sich ein wenig vor,
»was das Schlimmste ist, wenn man zu Weihnachten allein sein muß?
Das ist nicht etwa, daß niemand an einen denkt, daß man keine
Geschenke bekommt. Nein, viel schlimmer ist: daß man niemandem etwas
geben kann, daß man alles für sich behalten muß! Wohltätige
Stiftungen, Sammlungen und dergleichen sind nur ein trauriger
Ersatz: man weiß ja nie, wohin die Gelder gehen, ob und wer seine
Freude daran hat. Das ist es eben; man will die Freude des anderen
sehen oder wenigstens ahnen - wer aber wirklich allein ist, der ist
von dieser Mitfreude ausgeschlossen ... Aber auch dafür habe ich mir
ein kleines Mittel ausgedacht, ein Mittel, das mich etwas tröstet!«
Bei diesen Worten
zog der alte Mann einen Briefumschlag aus der Tasche. »Sehen Sie,
junger Mann«, fuhr er geheimnisvoll fort: »Hier habe ich das Mittel
aufgeschrieben, und ich bitte Sie um die Freundlichkeit, es
aufmerksam zu lesen, denn ich muß jetzt aussteigen, ich bin nun
schon zwei Stunden gefahren, bin müde und muß ins Bett. Ich danke
Ihnen für Ihre freundliche Gesellschaft, vielleicht treffen wir uns
am nächsten Heiligen Abend - wenn ich dann noch lebe ... «
Der Zug hielt. Der
alte Mann drückte mir die Hand, stieg aus, winkte mir noch zu und
verschwand rasch im Dunkel. Während der Zug sich wieder in Bewegung
setzte, öffnete ich neugierig den Briefumschlag: er enthielt nichts
als einen Hundertmarkschein, kein Wort, keine Adresse. - Beschämt
saß ich da: ich war auf meine einsame Weihnacht so stolz gewesen,
aber ich hatte doch ein Zuhause, ich konnte doch an jemand denken.
Vor dem grausamen Alleinsein dieses alten Mannes verblaßte meine
vorübergehende Einsamkeit zu einem harmlosen Abenteuer.
*
(Aus: SvV.:
Das Kritzelbuch. 1939 - ©-Nachfolger
unbekannt; m i r geht es hier um eine schönes Weihnachtsfest, ein -E r l e b e n; zu unterrichtlichen & erzieherischen Zwecken. )
Im R e g e n e r Kasten, näherhin in Weißenstein - jahrzehntelang e H e i m a t des Dichters Siegfried von Vegesack (im Winter des Jahres 2010).
Siegfried von Vegesack: Weihnachten
Siegfried von Vegesack: Weihnachten
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen