Samstag, 10. März 2012

Gedächtnisakrobatik

Gedächtnisakrobatik – ein Begriff, der …

Eine semantische Reise über einige Tücken der Wörterbuchlosigkeit im Grenzbereich des Wissens, der Erinnerungsfähigkeit(en) und der Akrobatik – im Interesse des Verstehens


Gedächtnisakrobatik – ein Begriff, der mir früher recht normal vorkam.


In den 60/70er Jahren d. vor. Jh.s gab es im Fernsehen häufig als Neuheit Aufführungen von Gedächtniskünstlern, deren Kunst (oder Künstlichkeit, also Mache) gerne umgangssprachlich und ein wenig belustigt, teilweise kritisch als [b]Gedächtnisakrobatik[/b] bezeichnet.

Eigenartig: Eine Suche bei Duden oder in anderen Wörterbüchern bringt keinen Treffer. Gibt oder gab es den Begriff nicht?

Hier, bei canoo.net, finde ich die bloße Beschreibung der Komposition des Begriffs.

http://www.canoo.net/services/Controller?input=Ged%E4chtnisakrobat&service=canooNet&lookup=caseSensitive

Ich persönlich empfinde das Wort „Gedächtnisakrobat“/“Gedächtnisakrobatik“ durchaus als zeitgemäß umgangssprachlich, zugegeben ein bisschen geringschätzig, da es das Umgehen oder Produzieren mit besonderen, auffälligen Erinnerungs-Kunststück(ch)en beschreibt. – Aber es ist mein eigens Srpachgefühl

Vergleiche mal (dies ist immer die erste, beste Suche nach einem Wort):


Oder heißt der Begriff: Gedankenakrobatik?


Nein, auch dafür gibt es in vielen verschiedenen Duden-Auflagen keinen Treffer.

Da der Begriff „Gedächtnisakrobatik“ semantisch nicht festgelegt ist, könntest Du aus folgenden Beispielen einen Satz mit eigener Wertung der „Akrobatik des Gedächtnisses“ formulieren:

Bedeutungen, Beispiele und Wendungen [für Gedächtnis]

Beispiele

ihr Gedächtnis reicht weit zurück

mein Gedächtnis lässt nach, lässt mich oft im Stich

wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, war es so

ein gutes, schlechtes Gedächtnis [für Zahlen] haben

im kollektiven Gedächtnis der Nation

das Gedächtnis verlieren

sein Gedächtnis nicht mit etwas belasten

sein Gedächtnis auffrischen

(umgangssprachlich) er hat ein kurzes Gedächtnis (vergisst schnell)

etwas dem Gedächtnis [fest] einprägen

ihr Name ist meinem Gedächtnis entfallen (ich habe ihren Namen vergessen)

jemandes Gedächtnis nachhelfen (1. jemanden erinnern, indem man ihm Anhaltspunkte gibt. 2. ironisch; jemanden, der sich an bestimmte Tatsachen nicht erinnern will bzw. angeblich nicht erinnert, auf diese Tatsachen hinweisen)

aus dem Gedächtnis (ohne Vorlage, auswendig) zitieren

etwas im Gedächtnis behalten, bewahren (nicht vergessen)

jemandem, sich etwas ins Gedächtnis [zurück]rufen (jemanden, sich an etwas erinnern)

Beispiel entnommen Duden-online; vgl. dort:

http://www.duden.de/rechtschreibung/Gedaechtnis

Ich glaube, dass der gesuchte Begriff der neueren, hübscheren Bezeichnung "Mnemotechnik“ gewichen ist; das klingt besser, gar wissenschaftlich.

Bei Wiki gibt es dazu einen ordentlichen, psychologischen Ansprüchen genügenden Artikel

http://de.wikipedia.org/wiki/Mnemotechnik

Ob es Künstler oder Showleute gibt, die sich als Mnemotechniker bezeichnen lassen…? Es klingt arg strapaziert, auch zu technisch.

Dort taucht einmal im Titel eines Buches von Berns und Neuber der Begriff „Gedächtniskünstler“, der ja positiver ist, auf.

Duden aber führt diesen Begriff als normal; auch die Mnemotechnikerin:

http://www.duden.de/rechtschreibung/Mnemotechniker

**

Weitersuchen zu „Gedächtnisakrobatik“? Bitte sehr, zwei Belege:

1. Im Kernkorpus des DWDS finde ich ein Beispiel aus der ZEIT:

„Auf dem Stundenplan steht die erste und vielleicht lebenswichtigste Disziplin dieses Wettbewerbs: das Erinnern von Namen und Gesichtern. Binnen einer Viertelstunde müssen sich die Gedächtnisakrobaten durch Reihen von Porträtfotos und Namen büffeln, so beliebig wie die Kartei einer Partnerschaftsvermittlung. Dann bleibt ihnen eine halbe Stunde Zeit, um die Bilderbögen wieder mit den korrekten Namen zu versehen.“ (DIE ZEIT, 01.08.2002, Nr. 32)

2. Ich finde aber in der ganzen deutschen Literaturgeschichte, so weit sie bei Gutenberg online vertreten ist, nur [i]einen weiteren[/i] Treffer; aus Jakob Wassermanns Kriminalroman „Der Fall Maurizius“ (1928):

[Die Erzählfigur ist eine Frau, eine „sie“]:

„In ihren bereits erwähnten Aufzeichnungen hatte sie sich des öfteren mit der Person Waremmes [eines zwiespältigen Helden] beschäftigt, bald in einer hingeworfenen Notiz, bald in längeren Betrachtungen, auch in einem Brief an Frau von Geldern äußerte sie sich über ihn. Sie überblickte ihn natürlich so wenig wie die meisten Menschen, die mit ihm zu tun hatten. Alles, was über ihn ausgesagt wurde, war genau so richtig wie das Gegenteil davon. Niemand kannte sich aus. Eine Zeitlang sprach die ganze Stadt nur von ihm, besonders am Anfang, im Winter 1904 auf 1905; da war es wirklich, als ob der Hecht in den Karpfenteich gefahren wäre und das Wasser zu Schaum schlüge. Spieler, Salonlöwe, Weiberheld, nun, das kennt man, der Typus ist nicht aufregend; zugleich aber Philolog, Philosoph, Dichter, Politiker, und in welchem Format! Kein hergeschneiter Dilettant, kein Gedächtnisakrobat, sondern ein produktiver Geist, etwas wie ein Teufelskerl, ein Universalgenie. Er arbeitet an einer neuen und, wie es heißt, grandiosen Übersetzung des ganzen Plato, aus der er seinen Freunden bisweilen Bruchstücke zum besten gibt, und hält Privatvorlesungen über Hegel und den Hegelianismus, der ja eben im Begriff ist, wieder in Blüte zu treten. Er veröffentlicht einen Band Deutsche Oden von Hölderlinschem Klang und führt in einer Zeitschrift für Altertumskunde den profunden Nachweis, daß die Parsifalsage durchaus nicht rein französischen Ursprungs sei, sondern in altgermanischer Mythe wurzele. Wie man hört, war er persona grata beim Fürstbischof von Breslau und ist durch diesen an den rheinischen hohen Klerus warm empfohlen worden. (…)“

Welchen Beigeschmack kann man hier bei Gedächtnisakrobat herauslesen? Natürlich den pejorativen.

http://gutenberg.spiegel.de/buch/3055/8

Ich glaube abschließend (nachgewiesen zu haben):

Gedächtnisakrobat ist ein veraltetes Wort, das ein wenig geringschätzig klingt, da die Erinnerungsleistungen nicht einer zirzensisch-akrobatischen Intention entspringen.[/color]

Damit endet – vorläufig – die semantische Suche.


Eine Vor-Fassung dieses Textes erschien (unter dem Nickname Generaltoni) hier.



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