Montag, 27. Oktober 2025

Wie mit spitzen Nadeln eingeschrieben -

 Alles – was – mensch – s  c  h  n  e  i  d  e  n  –  kann – muss man – nicht   b r e c h e n.



... in einer K r a n k e n h a u s k a p e l l e ...

anton@reyntjes.de

... in einer Krankenhauskapelle . . .


Wie mit spitzen Nadeln eingeschrieben

Oder

Muttersohn und Vatertochter


Sonntags. Sonne. Flatternde blaue Bänder hinter Schneewolken. Schönstes Wetter. Der Tag mit Thommy! Mein Tag mit ihm. Alle vierzehn Tage. Meistens samstags. Oder für zwei Tage, wenn der Männe will, der Werner...

Na, dann raus in die Welt, mein Schatz!

Dorthin wo ich geboren wurde, Mama?

Wie meinst du das? Überall ist die welt? Oder?

Ja, wo die Welt, bin ich doch geboren, ja?

Ja, Thommy, wo du zur Welt gekommen bist, da fahren wir auf dem Rückweg vorbei, ja, bei der Elisabeth-Klinik. Da findet man Sontagsabends schon einen Parkplatz-

Hilf mir, das Dinge ist schwer!

Ja, was machen wir mit dem Schlitten? N'türlich losziehen. Und mich hilfste auch mal rauf. Oder

Kannst du denn so schwer ziehn wie Papa?

Eins, zwei, drei - wer sitzt noch nicht drauf? Los!


Matschig, knirschender Schnee, auf allen Waldwegen, festgespurt. Wir waren vier Stunden mit dem Schlidderkahn unterwegs in der Haard. Von Mutter Wehner, am St. Johann vorbei, nördlich weit raus, an einer Kapelle vorbei. Da saßen wird bald in den Kirchenplätzen. Wenn die Bude nicht geschlossen wär.

Müde? Heiße Tasse Schoko?

Ich nehm Lindenblütentee. Biste krank, Mama? Und du: Fahrn wir noch nach Neuhaus?

Du meinst...?

Ja, zur Elisabeth-Klinik.

Ja, äh, ja! Äh, Thommy, ja, wenn wir noch Zeit haben?

Blankes Entsetzen im Antlitz. Wenn er mir weint - was denn? Nachgeben?

Ja, Thommy. Natürlich, geht das doch!

Die Zeit! Immer die Zeit! Ich möchte bis morgen bei dir bleibn! Mama. Deine Bettwäsche! Deine Brötchen. Dein Busen, der mich einschlfen lässt. Soso g*schwätzig!

Wen du dich schon anschmiegst. Später muß ich ja selber für meinen Schlaf sorgen, dann lege ich dein Köpfchen auf das zweite Kopfkissen.

Aber kann ich noch bleiben bei dir. Hast gesagt, hast erst um vier Uhr Schule. Bei den Gängstern. Jay, ruf doch an!! Fürs nächste Mal bring ich Papas Handy mit.

Gut, Thommy, erst zur Kapelle; und dann rufe ich gleich Werner an!

Da nehmen wir uns auch noch Zeit, in die Stadt zu fahren, die wir verlassen haben, nach dem Tod unserer Ältesten.

Thommy weiß den Weg noch. An der Ampel links, wo es - er schnüffelt den Namen auf: nach Kortenhusen geht. Richtig? Ja, die großen Schriften kannste schon alle.

Da: Erst zum Krankenhaus. Gang durch das Foyer, von den Fenstern bunt durchflimmert. Da hängt wieder Kunst an den Wänden und den Fensterpfeilern. Will verkauft werden. Grafisch auffällig rund, bunt, knallig, auch im Preis. Dekorationen fürs Heim.

Rechts, rechter Hand, nicht auf die Station rauf, wo wir so lange warten mußten, sogar nachts auf einer Liege bleiben konnten - jedenfalls einer von uns.

Wo läuft er hin?

In die Kapelle. Thomas ist schon vorgelaufen. Zeigt die Finger der linken Hand, mit abgewinkeltem Daumen. Will Geld für vier Lichter.

Das sind doch keine Kerzchen.

So - sag doch mal, wie heißen die Ölleuchten.

Weiss ich nich mal, Ich glaube, jemand sagte Dochtbrenner - oder Hindenburgleuchten. Warum das denn?

Ja, ja, Linkepoot! Wir sind eigentlich vier. Eigentlich.

Ist das auch ein böses Wort, Mama?

Ach, was du alles verstehst, Thommy. Gib mir deine Hand.

Später erzähle ich Werner am Telefon, den werd ich aus einer Familienfeier - mit Oma Helga - holen lassen: Ja, Sonnentag, Werner, ist schon spät geworden. Vormittag. Ja, hatte noch Zeit, nach der Eröffnung. Wir waren noch zu Besuch in der Krankenhaus-Kapelle, natürlich, Elisabeth! Weißt ja, Thommys Welt. - Nein? Weißt nicht mehr? Na, eben "gegebener" Anlass... - Ja?

Erzähl weiter Mary!

Na, das dicke Fürbitten-Buch, so mit einem Titel, glaube ich: "Mein Anliegen", eben zum Eintragen: In das Bitt- und Gebetbuch, neben einer Mutter-Gottes-Plastik, groß und herb wie ein verarbeitetes Fräuchen. Auf einem Stahlhocker, liegt da auf einem Schreibpult auch ein Kugelschreiber - dort las ich die drei letzten Eintragungen; und ich schrieb sie ab. Kuckte niemand zu! Ja - natürlich, Thommy. Was der da wohl schon lesen kann?



Lieben's Gott! - Lass Schalke Meister werden und Oma& Opa gut über der Arena sitzen. Armen!

Eurer D..V. 27.03.



Bitte das möchte doch bei der operaction alles gut gehen!! Dank, Mutter, Tausendmal!

Deine Plascha 29.03


Göttin! Daß Du mir beide Eltern genommen hast - unter irren Schmerzen - werde ich Dir nie vergessen. Die haben das nicht verdient!

Späzer: Fick Dich, Alte!

Okay, forever ab heute – 29.3.2002 -


Und alles wie mit spitzer Nadel eingeschrieben.

Meinste, wie - mit Herzblut?

Ja, auch so! Denk doch, die, die Muttergottes zur Göttin erwählt hat. Gut dass sie sich nur an einem Buch abreagiert. Nicht wie der arme Robert, der -

Aber hör mal! Werner regt sich leicht auf: Und das hast du alles Thommy vorgelesen -?

Quatsch, drei Eintragungen war eben da. Fand ich da, las ich da.

Die letzten, noch heute morgen eine geschrieben, alle auf einer Seite.

Schreibst du denn auch die Fehler mit ab, Mama?

Hat er gefragt, als ich die Notizen abschrieb.

In deine kleine Unterwegs-Kladde?

Ja, mein rotes Buch.

Aber, wie hat er das gemerkt?

Ja, er fragte: "Tick dich", was heißt das, Mama?

Okay. Wie hastest ihm erklärt?

"Vertick dich!" habe ich gesagt. Da war er schon zum Harmonium entlaufen.

Und wollte klimpern?

Das gottseidank abgeschlossen war.

Schön. Die gebundene Kraft der Heilswerke.

Und wie hat Schalke gespielt. Das will ich noch wissen.. Will ich ihm noch erklären. Soll Werner ihm sagen.

Na, wie? Eben: Schalke hat doch am Wochenende gesiegt. - Werner, ich hab dich was gefragt -

Ja, stimmt! Hockt da irgendwo in der Spitzengruppe der Bundesliga und kann noch Deutscher Meister 2002 werden.

Und die Dame mit der etwas stilistisch ungelenken Schrift. Eine Ausländerin, oder? Eine Übersiedlerin. Sie hatte den Mut, ihren Wunsch niederzuschreiben, ohne Sorge um Kinkerlitzchen. Ja, warum? Man könnte dann alle drei, die Ungenannten, identifizieren, mit den Daten und Namen auf den Stationen vergleichen. Aber das tut niemand. Vielleicht schreibt man auch falsche Buchstaben drunter.

Dann habt ihr wieder mal über Gott palavert?

Kennst uns ja! Ich blätterte nicht zu weit zurück, in dem dicken Buch -

"Totenbuch" las Thommy. Habe ich Lebensbuch genannt, nach dem Unfall, den vier Tagen Hoffen, und Nächten. Schwanken, Verzweifeln. Schwarze Insekten, ganz langsam kriechend, sehn, die die Wände runterkriechen, zu Annikas Bett hin.

Mit den dummen Ausreden. Dem blanken Entsetzen, das Annika noch leben könnte - wenn...

Ich habe diese Wenn-Konstruktion immer wieder zu Ende gedacht. Wie eine Schnur zum Selber-Fesseln, wie ein Lasso, das immer kürzer wird, weil man schon seine eigenen Beine wiederholt mit einschlägt. Fest! Gefangen!

So hast du dir die Luft abgeschnitten. Bis ich für dich den Arzt holen ließ.

Irgendwoher - wie ein Angel. Ja, ein guter Mann!

Ich weiß es nicht mehr. Nur was mit Annika war... Und wie sie in den Aufzug geschoben wurde. Im Bett. So daß man nicht auf ihr verdecktes Gesicht seh-sehn -

Wein ruhig, Schatz... Ich hör zu! Ja, ich -

Ach, was? Weiter, Mary. Mußte doch mein kleiner Nachruf auf Annika noch drin stehen. Das Buch ist ja so dick, hat viele Seiten und Monaten frei für.... Für alles...

Ja, ich hör zu, Mary.

Da, September, ich blättere weiter zurück: August, verdammt, 28.! Goethes Geburtstag - Annikas Abschied von dieser Welt. Camus' Arzt in der Stadt -

Wie hieß denn der?

- die die Pest im Würgegriff hatte, hatte Recht. Für immer und ewig an Gott glauben...? In einer Schöpfung, in der Kinder sterben müssen, qualvoll... Da glaubt er nicht mehr an Gott. Aber er hat jedem Kind geholfen.

Wer? Doch noch Gott?

Der Arzt! Womit hat der sich denn sonst wohl zu beschäftigen - wenn nicht mit Kindern, die leiden, die verrecken, bevor sie irgendwas Böse se getan haben... Müßte Gott doch wissen. Gar abstellen die Perversion.

Ja, auch so ein Schmerzpunkt in dieser Welt.

Ich weiß nicht, was ich damals eingetragen habe - weißt du es noch.

Muß ich mich - nein, kann ich mich nicht mehr erinnern. Was von Rilke?

Was? Rilke für alles?

Von Rilkes "Nachbar - Mensch und Gott" und so? Aus den Stundengebeten.

Der Gott in der Zelle nebenan. Dem Wasser fehlt?

Weiß das alles nicht mehr - Nee, wirklich, damals, ging ganz flott, wie unter Zwang, um Mitternacht. Hatte mich sowieso gewundert, dass die Kapelle noch offen hatte. War einfach in den dunklen Gang gelaufen. Das große Kreuz an der Tür in seiner kühlen, glattgegriffenen Bronze. Ohne Korpus. Damit sich keiner dran verfängt. Leise zu die Tür! Ein rotes Funkeln auf einem Glas blitzte mich an. Ich fand zum Altar, durch den Mittelgang, mal habe ich mich an einer Rückenlehne eines Stuhls festgehalten. So wie gestippt, versteh'n Sie? Fand das Buch, schweinemäßiges Leder. Vierpfünder?

Pause, an den Hörern, schweres Atmen.

Ach, Werner, deine supernaturwissenschaftlichen Fragen.

Trug's rüber -

Wer?

Ich. Ich wollt' die kleine Schau: Trug's rüber zum Altar, wo das Ewige Licht aus der Ampel noch eben sein Rot hinsprützte. Legte da das Bitten-Buch auf die weiße Altar-Alba.

Du meinst Ambo, Mary. - Erzähl weiter. Ich hör zu.

Also Ambo? Warum? Beide? Ja, das hast du immer gekonnt. Zuhören! - Also ich fand da eine letzte Eintragung. Irgendwas in Kinderschrift. Kevin! Ein Kevin hatte unterschrieben. Der wollte was haben. Irgendwas mit Rollschuhen. Kann der schon zwölf gewesen sein?

Ach, lass! Mary!

Und hab dann Meins geschrieben. Wohl eine Seite voll. Wollte sie rausreißen, als ich das Schriftbild bemerkte, und dass ich nach rechts unten abgerutscht war. Und was wie aus einem schlechten Roman wirken musste.

Ja, weiß ich noch. Ich hab dich ja da gefunden.

Und dann bin ich in die Knie gegangen. Einfach schlapp gemacht! Aber da stand es wenigstens: Irgendwas wie "Nur wer mit dem Strom schwimmt, ist ein toter Fisch. Bleib lebendig für uns, Annika! Wenn du uns hören kannst!"

Ehrlich - das hast du reingeschrieben? Mary, weiß ich nix von!

Und wieder rausgerissen. - Also, jetzt wieder mit Thommy, verstehst du mich überhaupt? Ich hab laut gequatscht. Zeig dem Thomas einen eingezeichneten Engel. "Mapa, erklärst du mir das?" - "Im Auto, ja, Schatz?"

Ich mag nicht nachlesen, was ich eingetragen habe, vor vier Monaten.

Ja, wer das gelesen hat?

Werner, noch am Telefon, als ich mit dem Nötigsten durchgedrungen war durch das Kaffeetassen ihr Klackern und dem "Deine Frisur aber auch. Oma! Und gar nicht teuer, sagtest du?!" "Muss schon sagen, dass du mich auf den Arm...!" "Ja, aber auch zwei Stunden im Salon!" "Und?" "60!" "Ja?" "Ja, Euro!"


"Ja, ja, was redete Thomas da? Gib ihn mir, bitte."

"Papa, du -"

Lass ihn plappern. Hör weg, Mary! Entspann dich. Lauf ums Auto rum. Und dann gab's nix mehr, was uns hielt. Und Werners Rechtsanwalt hat alles in den Teich geritten. Mit Geldforderungen. Für sein Studium! Der Theologie! Pah!


"Schwärmst ja richtig, sogar...!"

Ich nahm dem Hörer wieder. Ich schwieg ausführlich.

"Aber was redete er da vom Krankenhaus...?

Ah, so!

Aber. Aber am Grab von Annika warst du nicht? - Doch nicht mit Thommy! Mein Gott! Wo er zur Welt kam - und Annika..."


Heute fällt es mir nicht schwer, nicht zu sprechen. Abwartn. Basta. Nix von' Bauchschmerzn erzähln.

Bring den Jungen noch heute Abend nach Hause. Ja? Sofort? In ner Stunde. Ja? - Kannst auch bei mir übernachten. Die Oma ist in einer halben Stunde -

Ja, dank dir.

Ich -

Ja, willst du?

Ach, aber lieber nicht!

Ach, mein süße Langstrumpf, du -

Klicks!

Das Telefon störte!

Thommy! Thommy? Wo steckst du? - Was? Bei Fremden im Auto? Ja, dudu, mit so einem Kuschelhund, jaja! - Komm, wir fahrn!

Juhu, zum Papa! Kommmmmmm!


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